Anlässlich des 150-jährigen Jubiläums der RWTH veranstaltete das Projekt „Leonardo“ im Wintersemester 20/21 die Veranstaltungsreihe „Die RWTH und die Zukunft – Lernen. Forschen. Machen.“ Im Rahmen der Veranstaltungsreihe hielten die Professor*innen Elke Seefried, Stefan Böschen und Max Kerner ein Gespräch zum Thema „Zukünfte: Gestern – Heute – Morgen“, in dem sie die Zukunftsvisionen und -vorstellungen der Vergangenheit und Gegenwart erörterten und die Grenzen des Zukunftentwerfens aufzeigten. ¹
Prof. Max Kerner
Betrachten wir die Vorstellung der Zukunft in der Vergangenheit, so zeichnet sich ab, dass sich diese bereits zwischen dem Mittelalter und der Vormoderne wandelt.
Der moderne Entschluss zur Zukunft wird nach dem Historiker Thomas Nipperdey geprägt durch das Erbe der jüdisch-christlichen Eschatologie, das heißt der religiösen Vorstellung von den letzten Dingen. Obwohl sich die beiden Religionen unterscheiden, stehen sie gleichermaßen für eine neue Zielorientierung, die sich von der antiken Kreislauftheorie absetzt. Beide Glaubensrichtungen vertreten die Ansicht, dass nach dem irdischen Leben das Jenseits folgt.
Es macht das Europäische aus, daß der Mensch seine eigene Welt in Gedanken und Erwartungen auf eine andere Welt hin zeitlich überschreitet und transzendiert. Dies ist die Transzendenz des europäischen Menschen. So gewiß zwischen der Ewigkeit des Mittelalters und der Zukunft der Neuzeit ein entscheidender Unterschied besteht, diese Zukunftsorientierung des Menschen, der nie ganz im Hiesigen zuhause ist, aus ihm heraussteht, dies verbindet den mittelalterlichen mit dem neuzeitlichen Menschen, sie ist eine mittelalterliche Wurzel dessen, was wir für so spezifisch neuzeitlich halten: des Entschlusses zur Zukunft, wie Hans Freyer das genannt hat.
(Thomas Nipperdey)²
Dieser „Entschluss zur Zukunft“ ist in der mittelalterlichen Geisteswelt besonders wirkmächtig in der Zeit- und Geschichtsvorstellung des kalabresischen Seherabtes Joachim von Fiore entwickelt worden. Aus dem theologischen Geheimnis der Dreifaltigkeit offenbart sich für Joachim von Fiore in der Bibel eine dreistufige Ordnung des Zeitablaufs. Den drei göttlichen Personen entsprechen drei Zeitalter bzw. Weltordnungen: die des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, die der Wissenschaft, der Weisheit und der Fülle der Erkenntnis. Wir haben es demnach mit einer trinitatischen Theorie des Fortschreitens zu tun, die der Zeit vor und nach Christus, das heißt konkret dem Alten und dem Neuen Bund eine dritte irdische Epoche anfügt: das Zeitalter des Heiligen Geistes, ein drittes Reich. Die Heilsgeschichte läuft also nicht von der Schöpfung über Christus bis zum Weltende, dem Ende der irdischen Zeit und dem Anbruch der zeitlosen Ewigkeit, sondern sie wiederholt sich hier auf Erden noch einmal in einem dritten und eigenständigen Status, dem des Heiligen Geistes. Joachim von Fiore hat diese dritte Epoche aus den Genealogien des Alten Testaments und den Ahnenreihen der Evangelien auf eine Generationenfolge von 42 Geschlechtern zu je 30 Jahren erschlossen, was wiederum bedeutete, dass jede dieser Zeitepochen 1260 Jahre umfassen und die dritte Epoche in der Mitte des 13. Jahrhunderts beginnen müsse. In dieser Zeit lebte Franz von Assisi, der Gründer des Franziskanerordens. Jener wurde von der Kirche heiliggesprochen und galt durch seine große Barmherzigkeit gegenüber Armen und Kranken als Ideal höherer Vollkommenheit. Dies stellt die erste Verwirklichung einer besseren Zukunft und einer höheren Spiritualität und höheren christlichen Verwirklichungsidee dar. In der frühen Neuzeit, während des 16.-18. Jahrhundert, verlor diese Idee einer heilsgeschichtlichen Ewigkeit und christlich-jüdischen irdischen Vollkommenheit an Bedeutung für die Vorstellung der Zukunft. Stattdessen wandelte sich die heilsgeschichtliche Ewigkeit des Mittelalters zu einer diesseitigen innerweltlichen Zukunfts- und Fortschrittsvision.
Diese Entwicklung hängt im Zusammenhang mit der neuartigen Welterfahrung in diesen Jahrhunderten, wie dem Buchdruck, der Reformation, der frühneuzeitlichen Naturwissenschaft und nicht zuletzt auch mit der Aufklärung. Diese Entwicklungen haben den göttlichen Heilsplan verblassen lassen, die Zeitordnung – der ordo temporum – verlor ihre theologische Deutung und Bedeutung und an die Stelle dieser biblischen Ausrichtung trat zunehmend eine neuzeitliche Zukunfts- und Fortschrittsidee, eine innerweltliche Ausrichtung, die somit die nächste Stufe einleitete.
Prof. Dr. phil. Max Kerner ist emeritierter Professor am Lehrstuhl für Mittlere Geschichte des Historischen Institutes an der RWTH Aachen
Prof. Elke Seefried
In der europäischen „Sattelzeit“ um 1800, am Übergang zur Moderne, öffneten sich – so die einflussreiche Deutung des Historikers Reinhart Koselleck – neue Erwartungshorizonte. In der Aufklärung hatten die christliche Eschatologie, also die christliche Erwartung des Jüngsten Gerichts, und religiöse Prophezeiungen an Deutungskraft verloren. Hingegen nährten nun wissenschaftlich-technische Entwicklungen und politische Umbrüche wie die Französische Revolution Vorstellungen von einer offenen und gestaltbaren Zukunft, die durch Pläne gelenkt und beeinflusst werden könne.
Die europäische „Hochmoderne“ – die Zeit von 1900 bis ca. 1970 – lässt sich dann geradezu als Zeit der Planungsbegeisterung lesen. Industrielle und wissenschaftlich-technische Dynamiken veränderten die Lebenswelten der Menschen tiefgreifend und beschleunigten sie, denkt man an industrielle Massenfertigung, Verkehr und Kommunikation. Dies beförderte Vorstellungen einer steuerbaren Zukunft, die unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse geplant werden sollte. Ausfluss dessen war auch das „radikale Ordnungsdenken“ (Lutz Raphael) der Zwischenkriegszeit: Die Planwirtschaft als ökonomische Zwangswirtschaft in der Sowjetunion und die rassistische Lebensraumideologie des Nationalsozialismus lassen sich als Formen einer radikalen Übersteigerung politischer Planung und Steuerung der Zukunft verstehen.
Ein anderes Beispiel für die Übersteigerung von Planung sind die 1960er Jahre, in denen die Zukunftsforschung als neue Wissenschaft von der Erforschung, Planung und Gestaltung der Zukunft große öffentliche Aufmerksamkeit erregte. Die Zukunftsforschung orientierte sich dabei stark an technologischen „Fortschritten“ wie Raumfahrt und Computerisierung. Die Zukunftsbegeisterung fand sich auch in der damaligen Literatur- und Filmlandschaft wieder. Bezeichnend für diese Zeit ist die große Resonanz der Science-Fiction, welche die Serie „Raumschiff Enterprise“ verdeutlichte. Generell herrschte großes Vertrauen in Wissenschaft und Technik, die Zukunft durchdenken, planen und berechnen zu können. Mit Hilfe von Computersimulationen und Entscheidungsmodellen, so der Anspruch der Zukunftsforschung, sollten genaue Zukunftsprognosen erstellt werden. Diese Prognosen waren dazu gedacht, politischen Akteur*innen die Planung und Gestaltung der Zukunft zu ermöglichen.
Auffällig ist, dass die Planungsmodelle der 1960er Jahre die Befindlichkeiten der Bürger*innen und die demokratische Legitimation politischer Vorausschau vernachlässigten. Auch deshalb kamen politische Planungskonzepte und Zukunftsforschung in den 1970er Jahren in eine Krise: Politische Entscheidungen können nicht nur technokratisch in die Zukunft geplant werden. Sie müssen – und das verdeutlichten die 1968er-Bewegung und die neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre – auch demokratisch legitimiert und an den Bedürfnissen der Gegenwart orientiert werden. Zirkulierende Krisenwahrnehmungen der 1970er Jahre verbreitete aber auch die Zukunftsforschung selbst: Sie ökologisierte sich in den 1970er Jahren. Dass die Zukunft der Umwelt nun zum großen öffentlichen Thema wurde, dies forcierten auch Zukunftsstudien wie The Limits to Growth – Die Grenzen des Wachstums aus dem Jahr 1972, eines der meistverkauften Bücher des 20. Jahrhunderts. Die Autor*innen argumentierten, dass angesichts drohender industrieller und demographischer Wachstumsgrenzen und ökologischer Probleme nun gehandelt werden müsse. Die Zukunftsforschung durchlief in der Folge selbst Lernprozesse. Immer erkennbarer wurde: Man kann nicht exakt prognostizieren. Nicht nur sind soziale Prozesse niemals eins zu eins voraussagbar und planbar. Auch lassen sich politische Entscheidungen nicht einfach weit in die Zukunft planen. Die Zukunft kann nicht berechnet werden, sondern sie muss vor allem ausgehandelt, diskutiert, gemeinsam entwickelt und gestaltet werden. Aus diesen Überlegungen entstanden neue Ansätze der Szenariotechnik und des Foresight, die eben mögliche Pfade in die Zukunft – „Zukünfte“ – abstecken und diese im Dialog mit den Betroffenen entwickeln. Von Seiten der Geschichtswissenschaft möchte ich betonen, dass es nicht möglich ist, vergangene Prognosen zu evaluieren – also zu prüfen, ob sie eingetroffen sind – weil jede kommunizierte Zukunftsaussage bestimmte Handlungen, Einsichten, Überlegungen hervorruft. So hat die Studie Die Grenzen des Wachstums die moderne Umweltbewegung mit ausgelöst sowie die Umweltpolitik der Europäischen Gemeinschaft forciert. Verschiedene gesellschaftliche und politische Akteur*innen reagierten auf die Warnungsprognose, und damit wandelte sich auch der Zustand der Umwelt nach 1972. Es macht also wenig Sinn zu sagen: „Die Studie ist nicht eingetroffen“, denn jede kommunizierte Prognose verändert auch die nachfolgende Zukunft. Dies ist nicht zuletzt eine Einsicht aus der Beschäftigung mit vergangenen Zukünften.
Prof. Dr. phil. Elke Seefried ist Inhaberin des Lehrstuhls für Geschichte der Neuzeit (19.-21. Jh.) mit ihren Wissens- und Technikkulturen an der RWTH Aachen
Prof. Stefan Böschen
Das Programm der innerweltlichen Deutung von Zukünften hat seinen Ausgangspunkt in der frühen Neuzeit. Man kann hier an die frühen Handelsbeziehungen der Seefahrer denken. Dies war ein hoch riskantes Geschäft. Der Begriff des Risikos ist tatsächlich zu diesem Zeitpunkt geprägt worden. Wenn ein Schiff verloren gegangen ist, war das ein sehr großer Schaden. Somit wurde bereits bei der Planung von Reisen berücksichtigt, dass dieser Schaden – dieses ungewünschte Ereignis – eintreten kann. Interessant ist, dass die Seefernhandelsunternehmer sich untereinander versicherten: Da alle gleichsam unter diesem Problem litten, versicherten sie sich wechselseitig als Gemeinschaft.
Mathematischer Ausdruck des Mechanismus wechselseitig kollektiver Versicherung ist die so genannte Versicherungsformel: Risiko = Schadenshöhe x Eintrittswahrscheinlichkeit. Das Interessante am Konzept des Risikos ist, dass es erstens ein Konzept der Kalkulation möglicher künftiger unerwünschter Ereignisse ist und dass es zugleich die Zukunft, die ja prinzipiell unvorhersehbar – also einen offenen Horizont – darstellt, durch ein rationales Verfahren zu binden versucht. Zukunft wird kalkulierbar. Das Risikokonzept ist daher ein Kalkulationskonzept: Durch Lernen, durch Rationalität, durch entsprechendes Wissen wird die Zukunft zu einer Entscheidungsgegenwart. Wie Frau Seefried sehr schön verdeutlicht hat, gab es in den 1960er/1970er Jahren einen Wandel, weil man erkannte, dass es Grenzen der Kalkulierbarkeit gibt. Soziale Systeme sind rückgekoppelt offene Systeme, sodass wenn eine Prognose geäußert wird, die Akteur*innen darauf reagieren können. Das Phänomen wird von Robert K. Merton unter den Stichworten der Self-fulfilling und Self-destroying prophecy beschrieben: Es werden ‚Prophezeiungen‘ gemacht und diese können durch das Handeln der Akteur*innen entweder zerstört werden, also in dem Sinne, dass das erwartete Ereignis nicht eintritt; oder es tritt gerade deswegen ein, weil man es erwartet. Soziale Systeme sind nicht wie physikalische Systeme, die in vielen Fällen als geschlossene beschrieben werden können, sondern sie reagieren auf das, was erörtert wird. Ein Diskursereignis kann eben dann sehr wohl zu ‚realen Ereignissen‘ führen.
In den 1970er Jahren hat es wiederum einen aufschlussreichen Wechsel gegeben, nämlich von Risiko zu Nichtwissen. Zu diesem Wandel kam es, als man sich fragte, ob aus vergangenen Risikoerfahrungen, die oftmals schon vorhergesehen wurden, nicht eine andere Form der Risikopolitik abgeleitet werden müsse. Eine wichtige Studie kam von der European Environmental Agency und lautete „Late lessons from early warnings“. So wie bei Wahrscheinlichkeitsrechnungen viele Ereignisse benötigt werden, um sinnvoll Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, werden für eine präzise Risikoberechnung viele Risikoerfahrungen benötigt. Der Ansatz der Prevention basiert genau auf die Vorsorge vor schon erkannten, gewussten, negativen Ereignissen. In den 1970er Jahren begann man mit Precaution diesen Ansatz weiter zu entwickeln. Precaution richtet sich auf Ereignisse, deren negative Konsequenzen man noch gar nicht kennt. Pate standen hier historische Ereignisse, wie das Ozonloch, hervorgerufen durch Fluorchlorkohlenwasserstoffe, eine Substanz, die schon in den 1930er Jahren entwickelt worden war, aber erst 1974 wurde die Hypothese zum stratosphärischen Ozonabbau durch diese Stoffe formuliert und erst 1985 wiederum wurde das Ozonloch entdeckt. Die Frage nach Precaution ist letztendlich eine Frage nach: „Wie vermeiden wir zukünftige Ozonlöcher?“ Und diese Frage ist deshalb schwierig, weil sie auf Nichtwissen verweist. Ein Nichtwissen, von dem man nicht von vornherein weiß – und deshalb tauchen einige Fragen auf: Ist das jetzt systematisch, gibt es ein Muster? Können wir das aufklären oder können wir das nicht aufklären? Welche Hilfe können uns dabei Wissenschaft, Technik oder Recht sein? Das heißt, hier gelangt das Zukunftentwerfen an eine Grenze der Erkennbarkeit. Was können wir als Menschen überhaupt erkennen? Was man deswegen vermehrt versucht, ist, sich durch Szenarien Zukunft anzueignen und letztendlich zu überlegen: Was sind denn die gewünschten Zukünfte, die wir uns vorstellen können und was können wir tun, um genau diese gewünschten Zukünfte, die wir uns so imaginieren, Wirklichkeit werden zu lassen? Aber auch hier gilt: Sozialsysteme sind offen, sind selbstbezüglich. Das Angestrebte kann genau durch das Anstreben vereitelt werden.
Prof. Dr. phil. Stefan Böschen ist Lehrstuhlinhaber für das Forschungs- und Lehrgebiet „Technik und Gesellschaft“ am HumTec der RWTH Aachen
Fußnoten
1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine Dokumentation dreier Vorträge, weshalb wir auf Quellenverweise verzichten.
2 Thomas Nipperdey: Die Aktualität des Mittelalters. Über die historischen Grundlagen der Modernität. In: Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays. München 1990. S.29-30.