Eine Frage der Zeit?

Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.

Liebe Leser_innen,

wenn die Zeit nur das wäre, was die Uhren messen, wäre die Frage nach der Zeit schnell beantwortet. Zeit wäre dann lediglich die messbare Dauer von Ereignissen. Es ginge um das Wann, einen Zeitpunkt, oder um das Wie lange, eine Zeitspanne. Aber Zeit sollte nicht mit den Techniken verwechselt werden, mit denen sie gemessen wird. Zeit ist keine absolute Größe, da sie auch empfunden wird. Sie beeinflusst den Menschen in seinen Gedanken, seinen Wünschen, seinen Vorhaben und Gefühlen. Bereits Aristoteles war bewusst, dass es keine leere und ereignislose Zeit gibt, „denn eben das ist Zeit: Die Zahl der Veränderung hinsichtlich des Davor und Danach“. Das erste mathematische Modell für Zeit und Raum lieferte Isaac Newton 1687: Man hielt die Zeit für ewig, es gab sie schon immer und würde sie immer geben.

Was ist also so rätselhaft an der Zeit?

Das neue Paradigma heißt Beschleunigung. Fraglich ist, inwieweit gegenwärtige Entschleunigungstrends dem entgegenwirken können. Darüber hinaus führt eine reine Orientierung an der Zukunft zu einer Verdrängung des Augenblicks – Zeit wird konsumiert und quantifiziert, der erlebte Moment erfährt keine Präsenz mehr. Besonders deutlich wird dies im Kontext von Entscheidungsprozessen innerhalb von Demokratien. Halbgare und dafür augenblicklich wirksame Lösungsangebote oder Kreativität für Langfristigkeit? Aber was spielt das überhaupt für eine Rolle, wenn die Existenz der Menschheit augenscheinlich zeitlich begrenzt ist – das eingeleitete Zeitalter des Anthropozäns führt gleichzeitig zu Naturkatastrophen und einer zunehmenden Verknappung von Ressourcen; auch der Planet Erde spielt auf Zeit. Eine Überwindung der eigenen Endlichkeit ist jedoch tief im Selbstverständnis des Menschen verankert, der Schlüssel dafür mag vielleicht sogar in der Natur liegen. Aus der Hoffnung heraus, die Zeit bis zu der Erforschung der Unsterblichkeit überbrücken zu können, lassen sich Menschen heute einfrieren – Kryotechnologie als technischer Optimismus im Wettlauf gegen die Zeit? Bei diesem Kampf gegen die Zeit verlieren wir uns letztlich nur selbst; fraglich ist, inwieweit eine Lebenszeitverlängerung auch gleichzeitig eine höhere Lebensqualität implizieren kann. Insbesondere auf individueller Ebene ist es von zentraler Bedeutung, das eigene Zeitbewusstsein zu reflektieren, andernfalls geraten wir zunehmend unter die Herrschaft der Zeit. Zeit als individuelle Ressource zu nutzen, ist auch in Michael Endes bekanntem – und wieder zeitgenössischem – Roman „Momo“ wiederzufinden. Je langsamer, desto schneller? Viele dieser Themen begegnen uns bereits in Kindertagen; schauen wir Kinderfilme oder lesen Kinderbücher in höherem Alter noch einmal, bemerken wir, dass gesellschaftliche Probleme oftmals Altbekanntes sind und wir sie bloß anders wahrnehmen. Letztlich können wir jedoch nur erahnen, was es heißt, Zeit tatsächlich zu erleben. Ein Versuch, die Zeit in Einheiten auch wahrnehmbar zu machen, kann in der Musik liegen. Trotz allem zerbrechen wir uns tagtäglich den Kopf über die Zeit und versuchen, bereits Vergangenes nachträglich oder in der Zukunft liegende Ereignisse gedanklich zu verändern. „Was, wäre wenn…?“ ist dabei unser beliebtestes Spiel mit der Zeit. Was wäre, wenn alles anders wäre? Alles eine Frage der Zeit.

Wir freuen uns, diese und weitere Fragen und Problemstellungen mit euch teilen zu können und präsentieren euch nun die vierte philou. Interdisziplinarität ist elementar für unsere Arbeit und spiegelt sich in dieser Ausgabe besonders wider. Das Thema Eine Frage der Zeit? soll sich multidimensional mit der gegenwärtigen Beschleunigungsdebatte auseinandersetzen, das eigene Zeitempfinden und -bewusstsein reflektieren und auch naturwissenschaftliche Perspektiven beleuchten. Durch den Fokus auf die Diversität der Themen wollen wir zeigen, dass das inneruniversitäre Gespräch eine der höchsten Prioritäten genießen muss. Umso mehr freuen wir uns, dass ihr nun eben diesen Versuch vor euch liegen habt. Wir wollen euch hiermit Anreize zu neuen Überlegungen liefern und hoffen, dass euch die vierte Ausgabe genauso gefällt wie uns!

Eure philou. Redaktion

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