"Laß mich nachdenken: War ich noch dieselbe, als ich heute früh aufstand? Ich meine fast mich zu erinnern, daß ich mich ein wenig anders gefühlt habe. Aber wenn ich nicht dieselbe bin, erhebt sich als nächste Frage: ‚Wer in aller Welt bin ich?‘ Ja, das ist doch das große Rätsel!“

Lieber Leser_innen,

nicht nur Lewis Carrolls Alice denkt über diese komplexe Frage nach, seit jeher zerbrechen sich zahlreiche Philosoph_innen, Psycholog_innen, Neurowissenschaftler_innen und Soziolog_innen den Kopf darüber, wer wir sind und was Identität überhaupt ist – oder sein kann.

René Descartes (1596–1650) schlussfolgert: Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich. Aber was ist das Ich? Und woraus leiten wir dieses Ich ab? Leiten wir dieses Ich aus unseren Empfindungen ab, müsste es doch reichen, dass wir ein Ich fühlen, um zu bestätigen, dass es ein solches gibt. Der Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) schreibt: „Man ist Individuum, ganz einfach als der Anspruch, es zu sein. Und das reicht aus.“

Aber streben wir nicht alle danach, ein Jemand in einem bestimmten Kontext zu sein? Bei der Suche nach der eigenen Identität passen wir uns auch der jeweiligen Gesellschaft an und fühlen uns wohl, wenn nicht sogar bestätigt, einer Gruppe zugehörig zu sein.

Identität und Kollektiv: Was bedeutet Identität in der heutigen globalisierten Welt? Entscheidet die Herkunft über die Identität und wie findet Identitätsbildung entlang der ethnischen Dimension statt? Und was geschieht mit dem Individuum, wenn es sich in ein Kollektiv begibt? Das Kollektiv vereint die einzelnen und suggeriert ihnen ein Gefühl von Stärke und Verbundenheit – nur wie sieht eigentlich die innere Logik solcher Kollektive aus? Eine solche kollektive Identität birgt jedoch auch die Gefahr, in extreme Strömungen zu konvergieren, wie es die Historie schon so oft gezeigt hat. „Ich, wir und die anderen“ – das zeigt auch die Ost-West-Divergenz in Deutschland im Kontext der Wiedervereinigung. Das „Wir-Gefühl“ ist letztlich auch der Inbegriff kultureller Identität, die trotz – oder aufgrund – einschneidender gemeinsamer Erlebnisse im Sinne eines kollektiven Gedächtnisses zu Zusammenhalt und Zuversicht führen kann.  

Aristoteles schreibt „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“. Aber wie bilden sich diese Einzelteile? Und in welchem Verhältnis stehen sie zum Ganzen?

Identität und Individuum: Ist es nicht gerade die Sprache, die das Individuum mit dem Kollektiv verbindet? Sprache ist unser Werkzeug zur Außenwelt und beschreibt den Schlüssel zum Selbst- sowie Weltverständnis. Die Sprache ist aber ebenso der Ausdruck unserer Persönlichkeit. Was geschieht, wenn wir durch unsere Sprache, unsere Kommunikation, ein falsches Bild von uns erzeugen? Inwieweit wirken sich Lügen auf unsere Identität aus und wo ist der Übergang zur Scheinidentität? Letztlich glauben wir doch an uns selbst und sehen den Kern unserer Persönlichkeit. Dahinter steht die Realität hinter dem „Ich“ – ohne diese wankt unser Identitätsgefühl und wir neigen stärker dazu, von anderen abhängig zu werden. Deren Zustimmung oder Ablehnung wird somit zur Grundlage unseres Identitätsgefühls, die uns auch in der Liebe begegnet. In ihr tauschen wir unsere Autonomie gegen die Abhängigkeit von einer anderen Person. Oder ist es nicht vielmehr so, dass Abhängigkeit und Freiheit zwei Seiten der gleichen Medaille sind? Neben dem Glauben und der Überzeugung an die Einzigartigkeit des Individuums bewegen wir uns auf einem schmalen Grat zwischen Selbst- und Fremdbestätigung – erkennen wir uns nicht nur im Austausch und im Vergleich mit anderen als das, was wir sind? Im Lebenszyklus sind wir ständig Krisen und Störungen ausgesetzt, die ein Teil von uns und damit unserer Identität werden können – insofern wir diese reflektieren und aufarbeiten. Sind es dann nicht unsere individuellen Erfahrungen, die uns auszeichnen?

Oder sagen wir es einfach mit Gertrude Stein (1874–1946): „Rose is a rose is a rose is a rose.”?

Wir freuen uns, diese und weitere Fragen sowie Problemstellungen mit euch teilen zu können und präsentieren euch nun die achte philou. Durch den Fokus auf die Diversität und Interdisziplinarität der Themen wollen wir zeigen, dass das inneruniversitäre Gespräch eine der höchsten Prioritäten im Studium genießen muss. Wir wollen euch hiermit Anreize zu neuen Überlegungen liefern und hoffen, dass euch die achte Ausgabe genauso gefällt wie uns!

Eure philou. Redaktion

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