Das natürliche Bild eines freien Willens ist eine unbeschwerte Waage: sie hängt ruhig da und wird nie aus ihrem Gleichgewicht kommen, wenn nicht in eine ihrer Schalen etwas gelegt wird. Sowenig wie sie aus sich selbst die Bewegung, kann der freie Wille aus sich selbst eine Handlung hervorbringen; weil eben aus nichts nichts wird.
Schopenhauer 1839: 596
Haben Menschen einen freien Willen? Seit jeher streiten sich Philosoph_innen um diese Frage. Viele, so auch Arthur Schopenhauer, zweifelten daran, dass es den freien Willen wirklich gibt. Heute wird nicht nur aus philosophischer Perspektive über die Frage diskutiert. Auch Erkenntnisse aus der modernen Hirnforschung, die untersucht, wie Entscheidungs- und Willensprozesse im Gehirn ablaufen, sprechen gegen die Existenz eines freien Willens. Kann mit Hilfe der Hirnforschung die Frage nach der Willensfreiheit beantwortet werden? Und wenn ja, wie würden sich die Erkenntnisse auf unser Leben auswirken?
Unter dem klassischen Begriff der Willensfreiheit wird das Streben nach einem Ziel verstanden, das nicht durch innere Motivationen wie Triebe, Leidenschaften oder Affekte fremdbestimmt wird. Der freie Wille ist demnach eine Selbsttätigkeit, die unabhängig und spontan zustande kommt und den Menschen dazu befähigt, autonom zu handeln und Entscheidungen zu treffen. (vgl. Prechtl 1999a)
Schon in der Zeit der Aufklärung wurden verstärkt Zweifel an der Existenz eines freien Willens laut. Philosophen wie John Locke und David Hume vertreten einen sogenannten Determinismus, also die Ansicht, dass unser Wille durch kausale Ereignisse vorherbestimmt ist (vgl. Prechtl 1999b). Nach Hume unterliegt die Welt kausalen Gesetzen – auch das menschliche Denken. Das, was Menschen wollen, basiert also auf dem Prinzip der Ursache und Wirkung. Der Wille des Menschen ist demnach unfrei, denn es ist keine spontane autonome Entscheidung, etwas zu wollen – innere Motivationen und Persönlichkeitseigenschaften bestimmen unseren Willen auf die gleiche Weise, wie Kausalketten Ereignisse in der Natur hervorrufen. Das Gefühl der Willensfreiheit ist nach Hume nur eine Selbsttäuschung. (vgl. Hume 1739–1740; vgl. Kulenkampff 2007)
Die Überlegungen über den Determinismus, die sich Hume schon Mitte des 18. Jahrhunderts machte, werden in der modernen Hirnforschung weiter ausgeführt und experimentell untersucht. Philosoph_innen und Wissenschaftler_innen, die den menschlichen Geist durch materielle Prozesse erklären, vertreten einen sogenannten Physikalismus: Mentale Zustände seien demnach das Produkt physikalischer Hirnvorgänge und nicht unabhängig von diesen zu betrachten (vgl. Brinkmeier 1999). Anknüpfend an Humes Überlegungen behauptet der Hirnforscher Gerhard Roth: „Aus dem Gefühl, wir seien bei Willkürhandlungen willensfrei, folgt nicht zwingend, dass Willensfreiheit tatsächlich existiert“ (Roth 2006: 10). Gemeint ist, dass Versuchspersonen durch Hirnstimulation oder experimentelle Tricks zu Handlungen gebracht werden können, von denen sie im Nachhinein sagen, sie hätten sie gewollt (vgl. ebd.). Ein weiteres Argument lautet nach Roth:
Willensfreiheit wird mit ‚einen Willen haben‘ verwechselt. Zweifellos gibt es einen Willen als Erlebniszustand, und dieser Wille ist notwendig, um bestimmte innere oder äußere Widerstände zu überwinden. Die Frage, ob dieser Wille frei sei, wird […] dabei nicht thematisiert, da wir die externe und interne Bedingtheit unseres Willens nicht empfinden.
Roth 2006: 11
Vor allem aber widerspreche das Konzept der Willensfreiheit aus psychologischer und neurobiologischer Sicht dem Wissen darüber, wie Handlungen, die wir als frei empfinden, in unserem Gehirn zustande kommen und dann ausgeführt werden (vgl. ebd.). „Aus Sicht der Neurowissenschaften ist für den Beginn und die Kontrolle von Willenshandlungen das Zusammenwirken vieler motorischer Zentren innerhalb und außerhalb der Großhirnrinde (Kortex) notwendig.“ (ebd.) Wichtige Hirnareale, die bei der Entstehung des Willens zusammenarbeiten, sind die Amygdala (Hauptzentrum für das Entstehen und die Kontrolle von Gefühlen) und der Hippocampus (Organisator des episodisch-autobiographischen Gedächtnisses) (vgl. ebd.). Die Verkettung von Amygdala, dem Hippocampus und weiteren Zentren führt nach Roth dazu, dass „beim Entstehen von Wünschen und Absichten das unbewusst arbeitende emotionale Erfahrungsgedächtnis das erste und letzte Wort hat: das erste Wort beim Entstehen unserer Wünsche und Absichten, das letzte bei der Entscheidung, ob das, was gewünscht wurde, jetzt und hier und so und nicht anders getan werden soll.“ (Roth 2006: 13) Das Entscheidende bei diesem Prozess sei, dass die Letztentscheidung einige Sekunden bevor wir diese überhaupt bewusst wahrnehmen und den Willen haben, eine Handlung auszuführen, getroffen werde (vgl. ebd.). Die Erkenntnisse der Hirnforschung beschreiben ein deterministisches Menschenbild, das der klassischen Vorstellung der Willensfreiheit entgegengesetzt ist, da unser Wille und auch unsere Handlungen durch die Prozesse unseres Gehirns bestimmt werden. Das Gefühl, dass wir in unseren Entscheidungen und Handlungen frei sind, ist aus dieser Sicht kein zureichender Grund, um die Willensfreiheit zu beweisen.
Dass die Frage nach der Willensfreiheit nicht obsolet ist, zeigt sich an den Folgen, die sich aus einem deterministischen Menschenbild ergeben würden. Willensfreiheit spielt eine bedeutende Rolle in der Ethik. Denn nur wenn wir über Willensfreiheit verfügen, können wir frei handeln und so moralische Verantwortung übernehmen. Bereits Aristoteles begründete seine Ethik auf der Prämisse, dass der Mensch in der Lage sei, sein Handeln selbst zu bestimmen und die moralische Verantwortung für sein eigenes Handeln zu tragen. Die Ursache für unmoralisches Verhalten liegt für Aristoteles immer in der handelnden Person selbst, denn diese ist dafür verantwortlich, unmoralische Handlungen vorzubeugen, indem sie einen guten Charakter ausbildet. (vgl. Aristoteles III3b–III4b)
Moralische Verantwortung, die schon Aristoteles zur Grundlage seiner Ethik machte, müsste durch einen radikalen Determinismus in Frage gestellt werden. Denn wenn niemand sich aus freiem Willen für eine Handlung entscheiden kann, kann ihm auch keine moralische Verantwortung und damit auch keine Schuld zugewiesen werden. Ohne Schuld wäre aber auch eine gerechte Bestrafung nicht möglich. Ein deterministisches Menschenbild hätte also erhebliche Folgen für Rechtssysteme in westlich-demokratischen Gesellschaften – vor allem in Bezug auf das Strafrecht und den Strafvollzug. Denn es wird davon ausgegangen, dass der Täter über Willensfreiheit verfügt und deshalb in der Lage war, nicht so zu handeln, wie er es letztendlich getan hat. (vgl. Roth 2006)
Der Determinismus wird jedoch von vielen Seiten kritisiert. Für Jürgen Habermas liegt eine der offensichtlichsten Schwächen der Theorie darin, dass sie der alltäglichen Wahrnehmung einfach nicht gerecht werden könne, denn der Determinismus sei unvereinbar mit dem Selbstverständnis der handelnden Personen (vgl. Habermas 2004). Auch der Philosoph Peter Hacker und der Hirnforscher Maxwell Bennett sehen eine Erklärung des menschlichen Bewusstseins durch die Erkenntnisse der Hirnforschung als unzulänglich:
But the mind, we argue, is neither a substance distinct from the brain nor a substance identical with the brain. […] Human beings possess a wide range of psychological powers, which are exercised in the circumstances of life, when we perceive, think and reason, feel emotions, want things, form plans and make decisions. The possession and exercise of such powers define us as the kinds of animals we are. We may enquire into the neural conditions and concomitants for their possession and exercise. This is the task of neuroscience, which is discovering more and more about them. But its discoveries in no way affect the conceptual truth that these powers and their exercise in perception, thought and feeling are attributes of human beings, not of their parts – in particular, not of their brains.
Bennett/Hacker 2003: 6
Geistige Zustände ließen sich demnach also nicht nur auf feuernde Neuronen in unserem Gehirn reduzieren. Das schwerwiegendste Problem des Physikalismus besteht laut dem Philosophen David Chalmers darin, dass nicht erklärt werden könne, wie Prozesse unseres Gehirns dazu führen, dass wir bewusste geistige Zustände erleben und reflektieren können (vgl. Chalmers 2018). Folgt man diesem Gedanken, dann kann die Hirnforschung geistige Zustände wie die Willensfreiheit zwar untersuchen und beschreiben, aber nicht erklären, wie sie zustande kommen.
Die Frage, ob Menschen über Willensfreiheit verfügen, bleibt also weiterhin offen im philosophischen und naturwissenschaftlichen Diskurs. Denn der Physikalismus, der die klassische Idee der Willensfreiheit verwirft, ist nur eine Betrachtungsweise und keine allgemeingültige Antwort. Eines scheint jedoch sicher: Die Frage nach der Willensfreiheit bleibt bedeutsam, denn sie beeinflusst unser Zusammenleben. Hätten wir Menschen keinen freien Willen, dann müssten wir unsere Vorstellung von moralischer Verantwortung und Schuld in Frage stellen. Das würde Rechtssysteme in demokratischen Gesellschaften fundamental beeinflussen – denn der Mensch wäre nicht frei in dem, was er will oder tut, und demnach auch nicht verantwortlich oder schuldfähig. Die Vorstellung eines Willens, der die Freiheit ausklammert, hätte dann keine Bedeutung mehr – oder wie Hegel es einst sagte: „Wille ohne Freiheit ist ein leeres Wort“ (Hegel 1820: 285).
Literatur
Bennett, M.; Hacker, P. (2007): The Introduction to Philosophical Foundations of Neuroscience. In: Bennett, M. et al. (Hg.): Neuroscience and Philosophy. Brain, Mind, and Language. New York et al.: Columbia University Press. S. 3–13.
Brinkmeier, B. (1999): Physikalismus. In: Prechtl, P. et al. (Hg.): Metzler Philosophie Lexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart et al.: Metzler. S. 448–449.
Chalmers, D. (2018): The Meta-Problem of Consciousness. In: Journal of Consciousness Studies, 25(9–10). S. 6–61.
Habermas, J. (2004): Freiheit und Determinismus. In: DZPhil, 52(6). S. 871–890.
Hegel, G. (1820): Grundlinien der Philosophie des Rechts. Zusatz zu §4. In: Lasson, G. (Hg.): Leipzig: Meiner. Neu herausgegeben mit den von Gans redigierten Zusätzen aus Hegels Vorlesungen 1911. S. 285.
Hume, D. (1739–1740): A Treatise of Human Nature. In: Selby-Bigge, L. A. (Hg.): Oxford: Clarendon Press. Nachdruck der Originalausgabe in drei Bänden 1896. S. 399–418.
Kulenkampff, J. (2007): Locke und Hume: Freiheit ja, Willensfreiheit nein. In: an der Heiden, Uwe et al. (Hg.): Hat der Mensch einen freien Willen? Die Antworten der großen Philosophen. Stuttgart: Reclam. S. 171–184.
Prechtl, P. (1999a): Willensfreiheit. In: Prechtl, P. et al. (Hg.): Metzler Philosophie Lexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart et al.: Metzler. S. 663.
Prechtl, P. (1999b): Determinismus. In: Prechtl, P. et al. (Hg.): Metzler Philosophie Lexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart et al.: Metzler. S.103–104.
Roth, G. (2006): Willensfreiheit und Schuldfähigkeit aus Sicht der Hirnforschung. In: Roth, G. et al. (Hg.): Das Gehirn und seine Freiheit. Beiträge zur neurowissenschaftlichen Grundlegung der Philosophie. Göttingen: Vanderhoeck und Ruprecht. S. 9–29.
Schopenhauer, A. (1839): Die beiden Grundprobleme der Ethik. Über die Freiheit des menschlichen Willens. In: Von Löhneysen, W. (Hg.): Arthur Schopenhauer. Sämtliche Werke. Bd. 3. Stuttgart et al.: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Reprographischer Nachdruck der 2., überprüften Auflage 1986. S. 483–624.