Wa(h)re Verantwortung

Ist Verantwortung käuflich? Ärzt_innen, Pilot_innen, Regierungsmitglieder, Richter_innen und CEOs in Leitungsfunktionen beziehen ein höheres Gehalt als ihre Mitarbeiter_innen in untergeordneten Positionen. Weithin gilt, dass mehr Verantwortung im Job ein höheres Gehalt verlangt und dieses in der öffentlichen Wahrnehmung auch rechtfertigt. (vgl. Preisendörfer 1988: 78) Der Beitrag wirft deshalb Fragen auf, welche Logiken hinter dem direkten Verhältnis von berufsbezogener Verantwortung und Gehaltseinstufung stehen, und diskutiert mögliche Konsequenzen, die derartige Kurzschlüsse mit sich bringen. Ist für eine Übernahme beruflicher Verantwortung der finanzielle Faktor einmal zum vorrangigen Kriterium geworden, so die These des Beitrags, verkommen öffentliche Vertrauensstrukturen zur Frage des Preises: Dann müssen wir uns fragen, ob wir uns mehr auf jene Verantwortungsträger_innen verlassen können, deren Arbeit finanziell besser vergütet wird. Gleichzeitig birgt dieser Primat des Geldes Gefahren, Verantwortung nicht nur zu einer bezahlbaren Handelsware zu etablieren, sondern im Umkehrschluss auch Verantwortungsmissbrauch und Korruption als lukrative Kaufoption einzuführen. Innerhalb eines solchen Szenarios folgt das leitende Prinzip der Verantwortungsfunktion nicht mehr vorranging einer ethischen, sondern einer finanziellen Maxime.

Verantwortung, die etwas wert ist

Im Kontext von Gehaltseinstufungen meint Verantwortungsfunktion eine professionsbezogene Entscheidungsvollmacht. Diese unterscheidet sich von der Fülle alltäglicher ‚selbstverständlicher‘ Verantwortungsrollen: Als Staatsbürger_innen, als Familienmitglieder, im Sportverein, im gemeinsam benützten Stiegenhaus oder in der U-Bahn. Wir versuchen diesen Verantwortungsrollen ohne finanzielle Vergütung nachzukommen, weil wir sie als ‚selbstverständlich‘ annehmen, mit anderen Worten, weil sie natürlicher Teil unseres Selbstverständnisses als Staatsbürger_innen, Familienmitglieder und U-Bahn-Fahrer_innen, etc. sind. Anders gestaltet sich das mit dem durch den Job erzeugten und ‚nicht selbstverständlichen‘ Übermaß an Verantwortung: Diese von Berufs wegen notwendige Übernahme von Verantwortung, die nicht zu unserem natürlichen Selbstverständnis als Person gehören, begründet eine Ökonomisierung von professionsbezogenen Entscheidungspositionen. (vgl. Blümle 1975: 67) Kurzum: Wer mehr Verantwortung trägt, soll und darf besser verdienen. Diese Form der arbeitsvertraglich vereinbarten Verantwortungsfunktionen entsteht aus im Einzelfall nicht frei gewählten Entscheidungssituationen und damit einhergehend einer außergewöhnlichen Entscheidungspflicht und Zusatzbelastungen, die alltägliche Formen der Verantwortung und das eigene Selbstverständnis als Teil der Gesellschaft im Regelfall weit überschreiten: Ärzt_innen, Pilot_innen, Regierungsmitglieder, Richter_innen und CEOs tragen aufgrund ihrer Profession erhöhte Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit und den ihnen Anvertrauten und finden sich mit einem viel größeren Haftungspotential konfrontiert als Mitarbeiter_innen in untergeordneten Positionen.

Beispielsweise häufen sich seit Jahrzehnten Fälle, in denen Mediziner_innen von Patient_innen und Angehörigen für misslungene Behandlungen bzw. vermeintliche Fehlentscheidungen gerichtlich zur Rechenschaft gezogen werden. (vgl. Bergmann/Wever 1999: 2) Zur Feststellung, ob strafbare Behandlungsfehler vorliegen, müssen die Mediziner_innen nachweisen, durchgehend das standardmäßige medizinische Protokoll und die vorgegebenen Maßnahmen leitliniengerecht befolgt zu haben. (vgl. Tombrink 2006: 137) Die zunehmend strengeren Regulierungen im medizinischen Bereich werfen dann aber wiederum die Frage auf, ob diese zusätzliche ‚Entscheidungsgewalt‘ letztlich gar nicht aktiver Natur ist und die Institutionalisierung finanziell abgegoltener Verantwortungspositionen in Wahrheit eine Distribution von Haftung darstellt, die zur Identifizierbarkeit gesellschaftlicher Sündenböcke dient.

Schließlich stehen wir als Gesellschaft vor der Frage, ob dieses reziproke Verhältnis von finanzieller Vergütung und Entscheidungsvollmacht auf einem Konzept von Verantwortung oder einem Konzept von Haftung aufbauen soll. Ein Konzept der Haftung definiert sich nämlich ausschließlich darüber, beim Versagen einer vereinbarten Verantwortung Schuld eindeutig zuordnen zu können. Wer ist am Ende verantwortlich für die beiden Flugzeugabstürze der Boeing 737 Max? Die Piloten? Die CEOs von Boeing? Wer ist verantwortlich für die Herztransplantation mit tödlichem Ausgang? Der leitende Operateur oder die diesem übergeordnete Klinikdirektorin? Das Konzept ‚Haftung‘ birgt dabei eine nicht sofort erkennbare Gefahr, weil sie das Gegenteil zu den ‚selbstverständlichen‘ Verantwortungsfunktionen im privaten Raum darstellt: Unsere ‚selbstverständlichen‘ Verantwortungsrollen, z.B. als Elternteil gegenüber unseren Kindern, als Ersthelfer am Unfallsort, oder als ökologische Fußgänger auf unserem Planeten, suchen primär keine Sündenböcke, sondern verstehen Verantwortung als die notwendige und fundamentale Grundhaltung des menschlichen Zusammenlebens. Kurzum: Sie sind wesentlicher Teil unseres Selbstverständnisses als Menschen. Wenige Menschen werden im Ernstfall nur aus Angst, wegen unterlassener Hilfeleistung strafrechtlich verfolgt werden zu können, Erste Hilfe leisten.

Das Konzept der Haftung als alleinigen Handlungsmotor – wer muss zum Schluss den Kopf hinhalten? – pervertiert den Grundsatz der Verantwortung als wesentlicher Teil des eigenen Selbstverständnisses innerhalb der Gesellschaft. Haftbarkeit wird dann nicht mehr vom sozialen Fundament einer jedem Menschen obliegenden ‚Pflicht für den Anderen‘, sondern vom Risiko der Strafe im Fall des Versagens her gedacht.

Deshalb plädiert dieser Beitrag für die zivilgesellschaftliche Notwendigkeit, professionsbezogene Entscheidungsgewalt als eine Erweiterung der ‚selbstverständlichen‘ Verantwortung zu denken und eine finanzielle Besservergütung als den symbolischen Ausdruck eines erweiterten ‚Selbstverständnisses‘ innerhalb der Gesellschaft zu lesen. Dazu dient als konkretes, geläufiges Beispiel: Die Öffentlichkeit erwartet von einer Lehrperson, dass diese während eines Schulausflugs nicht nur auf eigene Schulkinder, sondern als eine Person mit öffentlicher Verantwortung, d.h. mit einem erweiterten Selbstverständnis als Verantwortungsträger_in, gegebenenfalls ebenso auf fremde Kinder achtet. Evolutionsbiologisch stellt ebendiese Erweiterung von Fürsorge vom eigenen, unmittelbaren ‚Stammeskreis‘ und ‚Rudel‘ auf die anderen einer erweiterten Gruppe den Grundstein komplexer, sozialer Lebensformen und Entwicklungen dar (vgl. Sumser 2016: 120f.).

Die Gefahr der Ökonomisierung von professionsbezogenen Verantwortungsfunktionen besteht schließlich darin, dass der alles vergleichbar und austauschbar machende Wert ‚Geld‘ in beide Richtungen Wert zu- und abzusprechen vermag: Ursache und Wirkung können sich austauschen. Dann kommt es zur Rückkopplung im öffentlichen Diskurs, nämlich, dass Verantwortungsträger_innen, eben, weil diese besser bezahlt werden, mit höherer Haftbarkeit und Schuldanfälligkeit beladen werden müssen.

Eine neue Kultur der Verantwortung als erweitertes Selbstverständnis

Demgegenüber – so der Appell dieses Beitrags – benötigen wir als Gesellschaft ein Bewusstsein, wie professionsbezogene Verantwortungsfunktionen ‚selbstverständliche‘ Verantwortungsrollen im Alltag notwendig erweitern. Dieser darf jedoch in keiner Weise dazu dienen, die Pathologien ökonomisierter Verantwortungsfunktionen, z.B. astronomisch anmutende CEO-Gehälter, in irgendeiner Weise zu legitimieren. Vielmehr kann eine wirksame Kritik der bestehenden Missstände allein in einer Rückbesinnung auf Verantwortung als Frage des eigenen Selbstverständnisses, privat und im Job, bestehen. Unser öffentliches Bewusstsein für professionsbezogene Verantwortung muss sich daher wieder auf die Übernahme eines erweiterten Verantwortungshorizonts einzelner für die Gemeinschaft richten. Diese zusätzliche ‚Bürde‘ darf und soll dann auch zusätzlich vergütet werden, denn allein aufgrund dieser Verantwortungsübernahme Einzelner im Bereich des Allgemeinwesens kann Gesellschaft als solche überhaupt existieren.


Quellen

Bergmann, K. O.; Wever, C. (1999): Die Arzthaftung: Ein Leitfaden für Ärzte und Juristen. Berlin: Springer.

Blümle, G. (1975): Theorie der Einkommensverteilung. Eine Einführung. Berlin: Springer.

Preisendörfer, P. (1988): Die schwere Last der Verantwortung – Ideologie oder Realität? In: Pragmatische Soziologie: Beiträge zur wissenschaftlichen Diagnose und praktischen Lösung gesellschaftlicher Gegenwartsprobleme. Wiesbaden: Springer VS. S. 77–81.

Sumser, E. (2016): Evolution der Ethik. Der menschliche Sinn für Moral im Licht der modernen Evolutionsbiologie. Berlin: De Gruyter.

Tombrink, C. (2006): Die Arzthaftung für schwere („grobe“) Behandlungsfehler. In: Arzthaftungsrecht – Rechtspraxis und Perspektiven. Berlin: Springer. S. 115–138.

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