Viel Lärm um nichts?

Ob Hauptstraße, feiernde Nachbarn oder kläffende Hunde – mit der Großstadt kommt der Krach, aber ist dieser nur lästig oder tatsächlich eine gesundheitsgefährdende „Geräusch-Verschmutzung“?

Mit dieser Frage beschäftigte sich auch die World Health Organisation im Jahr 2011 (WHO 2011). Sie wollte herausfinden, wie viele gesunde Lebensjahre in Europa durch Lärm „verloren gehen“ und erörterte in einer Übersichtsarbeit unter anderem die Auswirkungen, welche Lärm auf das Herzkreislauf-System sowie die kognitive Leistungsfähigkeit von Kindern hat.

Herzkreislauf-Erkrankungen

[su_box title=“DALYs“ title_color=“#FF8378″ class=“fancy article-infobox-40-right small-text“]Die WHO gibt die Anzahl der verlorenen Lebensjahre in DALY (Disability Adjusted Live Years) an. Der Wert setzt sich sowohl aus den Lebensjahren zusammen, die durch frühzeitigen Tod verloren gehen, als auch aus den Jahren mit eingeschränkter Lebensqualität auf Grund von Krankheit. Unterschiedlichen Krankheiten werden dabei in Abhängigkeit ihrer Schwere ein „disability weight“ beigemessen, welches durch das Global Burden of Disease Project (GBD) festgelegt wird. Als Maßstab für die „maximale Lebenserwartung“ gilt dabei die durchschnittliche Lebenserwartung der Bürger Japans (vgl. WHO 2018).[/su_box]Aus medizinischer Perspektive ist ein hoher Geräuschpegel ein „nicht-spezifischer Stressor“ (vgl. WHO 2011), also ein Reiz, der das vegetative Nervensystem und das hormonelle System, welche die Funktionen des Körpers kontrollieren, aktiviert und in Alarmbereitschaft versetzt (vgl. Maschke et al. 2000). Dies äußert sich durch einen schnelleren Puls und einen höheren Blutdruck – eigentlich völlig gesunde Reaktionen auf Stress. Geschieht dies jedoch immer wieder, kann es zu einer Dysregulation der normalen Körperfunktionen kommen, was unter anderem mit Herz- und Gefäßerkrankungen in Zusammenhang steht (vgl. Sabbah et al. 2008). Die kurzfristigen Auswirkungen von Lärm auf das Herzkreislaufsystem ließen sich, wenn auch in einem etwas befremdlich anmutenden Versuch, schon vor 30 Jahren im Labor nachweisen (vgl. Flynn et al. 1988). So konnte man bei narkotisierten Meerschweinchen, welche fünf Minuten lang über Kopfhörer einem Geräuschpegel von 115 Dezibel (dB), in etwa die Lautstärke einer Hupe, ausgesetzt wurden, einen deutlichen Anstieg des Blutdrucks messen. In Abhängigkeit des Narkosemittels kam es initial sogar fast zu einer Verdopplung des Ausgangwertes.

Selbstverständlich lassen sich derartig künstliche Umstände nicht eins zu eins auf die tatsächliche Lebensrealität von Menschen übertragen, doch auch im echten Leben lassen sich Auswirkungen von Lärm, etwa durch einen Flughafen, bemerken. Beispielsweise wurde im Rahmen einer Studie aus dem Jahre 2002 untersucht, wie sich der Blutdruck der Anwohner nahe des Flughafens Schiphol in Amsterdam zu dem Blutdruck von Einwohnern in weniger lauten Regionen verhält (vgl. Franssen et al. 2002). Dabei wurde festgestellt, dass die Anwohner rund um den Flughafen, welche dauerhaft einem Geräuschpegel über 55dB (etwa Zimmerlautstärke) ausgesetzt waren, pro 5dB über 55dB, ein 26% höheres Risiko hatten, an Bluthochdruck zu erkranken.

Auch die WHO kommt in ihrem Report (2011) unter Berücksichtigung zahlreicher Untersuchungen zu dem Schluss, dass etwa 1,8% der DALYs in der EU, welche durch Herzerkrankungen entstehen, auf die Auswirkungen von Lärm zurückzuführen sind. (3,4 Mio. DALYs insgesamt durch Herzerkrankungen auf 4,1 Mio. Einwohner in High Income Ländern der EU)

Kognitive Beeinträchtigung bei Kindern

Ob Musik hören beim Lernen hilft oder stört, darüber scheiden sich die Geister. Gut erforscht ist jedoch, welchen Effekt Lärm auf die Leistungsfähigkeit von Kindern hat – von der WHO definiert als:

„Reduktion der kognitiven Leistungsfähigkeit von Schulkindern, welche während der Exposition von Lärm auftritt und für einige Zeit nach Beendigung der Exposition anhält.“ (WHO 2011)

Um die Effekte von Lärm in einem möglichst natürlichen Setting zu beobachten, führte ein internationales Team von Psychologen 1992 ein Feldexperiment am damals neu eröffneten Flughafen in München durch. Sie untersuchten in mehreren Studien, welche Einschränkungen die Kinder im Einzugsgebiet des alten Flughafens hatten, wie sich diese nach dessen Schließung verhielten und wie sich die Leistungsfähigkeit der Kinder entwickelte, welche in der Nähe des neu in Betrieb genommenen Flughafens wohnten. Es zeigte sich, dass in beiden Fällen ein hoher Lärmpegel zu der gleichen Einschränkung des Langzeitgedächtnisses und des Leseverständnisses führte, der Effekt aber reversibel war und bei den Kindern um den alten Flughafen zwei Jahre nach Wegfall des Lärms nicht mehr auftrat (vgl. Evans et al. 1995–2002).

Dass es durchaus einen Unterschied zwischen Fluglärm und Straßenlärm geben könnte, zu diesem Schluss kam die großangelegte RANCH-Studie (Road traffic and Aircraft Noise exposure and Childrens cognition and Health) von 2005, an der über 2800 Kinder aus drei Ländern teilnahmen (vgl. Stansfeld et al. 2005/2010). Sie bezog unter anderem die sozioökonomische Situation, Ausbildung und Herkunft der Eltern mit ein, um zu verhindern, dass es zu einer Verzerrung der Ergebnisse kommt, etwa weil sozial schwächere Menschen eher in der Nähe von Flughäfen wohnen. So schien es einen linearen Zusammenhang zwischen der Exposition zu Flugzeuglärm und Defiziten im Leseverständnis und dem Langzeitgedächtnis zu geben, in Zusammenhang mit Straßenlärm ließ sich dieser Effekt aber nicht feststellen. Tatsächlich zeigte sich das episodische Gedächtnis bei Kindern, welche in viel befahrenen Gegenden wohnten, sogar als besser ausgeprägt, als das der Kontrollgruppe. Die Wissenschaftler der RANCH Studie vermuteten daher, dass Flugzeuglärm durch seine Unvorhersehbarkeit und höhere Lautstärke einen negativeren Effekt auf die Leistungsfähigkeit habe, als konstanter Straßenlärm.

Unter Bezugnahme auf weitere Studien errechnete die WHO 2011 mit den Daten Schwedens als Beispiel für ein wohlhabendes europäisches Land, dass etwa 107 DALYs pro 1 Million Einwohner durch kognitive Einschränkungen bedingt durch Lärmbelästigung verloren gehen.

Störend ist immer der Lärm, den man nicht selbst verursacht und mitten in der Stadt gibt es unter Umständen mehr davon, als erträglich ist. Solange man jedoch nicht in der Einflugschneise eines Flughafens lebt oder einen hauptberuflichen Trompeter zum Nachbarn hat (vgl. Pressemitteilung Bundesgerichtshof Nr 171/2018), halten sich die gesundheitlichen Einschränkungen hinsichtlich der Leistungsfähigkeit von Hirn und Herz in Grenzen. Wird man durch anhaltenden Lärm merkbar am konzentrierten Arbeiten oder im Schlaf gestört, Schnarchen kann durchaus eine Lautstärke von 60dB erreichen (vgl. Lee et al. 2016), sollte man über die Verwendung von Ohrstöpseln oder gegebenenfalls einen Umzug nachdenken.

[su_divider top=“no“ divider_color=“#FF8378″ margin=“35″]

Quellen

Bundesgerichtshof (2018): Trompetenspiel in einem Reihenhaus. Mitteilung der Pressestelle. Nr. 171/2018. Online verfügbar unter: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=pm&pm_nummer=0171/18 [Zugriff: 16.12.2018].

Evans, G.W. et al. (1995): Chronic noise and psychological stress. In: Psychological Science. 6. Jg. 1995/6. S.333–338.

Evans, G.W. et al. (1998): Chronic noise exposure and physiological response: a prospective study of children living under environmental stress. In: Psychological Science. 9. Jg. 1998/1. S. 75–77.

Evans, G.W. et al. (2002): A prospective study of some effects of aircraft noise on cognitive performance in school children. In: Psychological Science. 13. Jg. 2002/5. S 469–474.

Flynn, A. J. et al. (1988): Blood pressure in resting, anesthetized and noise-exposed guinea pigs. In: Hearing Research. 34. Jg. 1988/2. S. 201–206.

Franssen, E.A. et al. (2002): Assessing health consequences in an environmental impact assessment. The case of Amsterdam Airport Schiphol. In: Environmental Impact Assessment Review. 22. Jg. 2002/6. S. 633–653.

Lee, G.S. et al. (2016): The Frequency and Energy of Snoring Sounds Are Associated with Common Carotid Artery Intima-Media Thickness in Obstructive Sleep Apnea Patients. In: Scientific Reports. 6. Jg. 2016/30559.

Maschke, C. et al. (2000): The influence of stressors on biochemical reactions – a review of present scientific findings with noise. In: International Journal of Hygiene and Environmental Health. 203. Jg. 2000/1. S. 45–53.

Sabbah, W. et al. (2008): Effects of allostatic load on the social gradient in ischaemic heart disease and periodontal disease: evidence from the Third National Health and Nutrition Examination Survey. In: Journal of Epidemiology and Community Health. 62. Jg. 2008/5. S.415–420.

Stansfeld, S.A. et al. (2005): Aircraft and road traffic noise and children’s cognition and health: a cross-sectional study. In: Lancet. 365. Jg. 2005/9475. S. 1942–1949.

Stansfeld, S.A. et al. (2010): The effects of road traffic and aircraft noise exposure on children´s episodic memory: the RANCH project. In: Noise and Health. 49. Jg. 2010/12. S. 244–254.

WHO (2011): Burden of Disease from Environmental Noise. Quantification of Healthy Life Years Lost in Europe. Geneva.

WHO (2018): About the Global Burden of Disease (GBD) project. Online verfügbar unter:  http://www.who.int/healthinfo/global_burden_disease/about/en/ [Zugriff: 01.12.2018].

Teile diesen Artikel:

Weitere Artikel

Call for Papers #16

Liebe Studierende, Habt ihr Lust zu schreiben und zu publizieren? Möchtet ihr eure Ideen der Welt mitteilen? Abseits von Credit-Points und universitären Notwendigkeiten habt ihr

Weiterlesen »

Sexuelle Bildung

Laura Cappenberg ist 36 Jahre alt, hat an der Universität Duisburg-Essen und der University of Waikato in Neuseeland Lehramt studiert, ihre Sexualpädagogik-Weiterbildung absolvierte sie in

Weiterlesen »

Melde dich für den philou. Newsletter an!

Wir informieren dich über neue Artikel, Ausgaben, Aktionen und Allerlei Anderes.