Um Chaos zu differenzieren, wird zunächst eine Begriffsbestimmung dessen benötigt, was Chaos darstellt. Hier ist Chaos nicht im Alltagssprachgebrauch – „die Küche ist reinstes Chaos“ – sondern im wissenschaftlichen Sinne als Zustand eines Systems gemeint, dessen zukünftige Entwicklung in hohem Grade unvorhersehbar ist. Der naturwissenschaftlich-technischen Perspektive folgend lassen sich solche Systeme durch einerseits Sensitivität gegenüber kleinen Störungen und andererseits komplexe Strukturen klassifizieren (vgl. Hunt/Ott 2015). Der folgende Artikel diskutiert diese Begriffsbestimmung, ihre Anwendbarkeit und führt neben Chaos als explizitem Attribut eines Systems auch Chaos als Attribut der Perspektive der beobachtenden Person ein.
Die Eigenschaft „Extreme Sensitivität gegenüber kleinen Störungen“ ist gut erfassbar, da sie ein Beiprodukt jeder experimentellen Vorhersage ist: Jede Messung des Anfangszustands eines Experiments unterliegt gewissen Unsicherheiten, die zu Fehlern in der Vorhersage führen können. Das muss aber nicht automatisch zu Chaos führen: Es ist in der Regel nicht möglich, beim Mischen von Wasserstoff und Sauerstoff die exakte Anzahl der Wasserstoffatome und der Sauerstoffatome zu bestimmen. Trotzdem ist, ob nun ein Atom mehr oder weniger beteiligt ist, das Ergebnis des Anzündens der besagten Mischung (Knallgasreaktion) absehbar. Dabei ist Sensitivität gegenüber Störungen stets in einem Spannungsfeld: Schlechte Messungen oder blankes Unwissen können jedes Experiment zu einem chaotischen Abenteuer verkommen lassen. Stattdessen stellt sich die Frage, was bei guten Messungen und korrekt angewandter Empirie vorhersagbar ist bzw. wäre. Um dies schärfer abzugrenzen, führen Ying und Zhang die Konzepte der intrinsischen und extrinsischen Vorhersagbarkeit ein. Erstere repräsentiert das Limit dessen, was unter der Annahme perfekter Modelle und vollständiger Information zu Modellbeginn vorhersagbar wäre. Letzteres hingegen beschreibt die beste Schranke für das, was im Rahmen realistischer Unsicherheiten sowohl im Modell als auch der Datenlage zu erwarten wäre (vgl. Ying/Zhang 2017). Wesentlicher Unterschied ist hier, dass die extrinsische Vorhersagbarkeit mittels technischen und wissenschaftlichen Fortschritts gesteigert werden kann, die intrinsische Vorhersagbarkeit jedoch nicht (vgl. Zhang et al. 2019).
Ausgehend von der obigen Definition lässt sich die folgende Faustformel formulieren, um die Chaotik von Systemen relativ zueinander zu bewerten: Systeme sind extrinsisch chaotischer, wenn der zeitliche Rahmen zuverlässiger Vorhersagen, bei verhältnismäßigem und vergleichbarem Aufwand zur Datenerfassung, kürzer ist. Systeme sind intrinsisch chaotischer, wenn der zeitliche Rahmen zuverlässiger Vorhersagen, bei perfekter Modellierung und vollständigen Anfangsdaten, kürzer wäre. Wobei zuverlässig hier immer bedeutet, dass die Chance, falsch zu liegen, unter einer zuvor definierten Schranke ist. Somit ist der Flug eines Asteroiden, dessen mögliche Kollision mit der Erde innerhalb eines 20-minütigen Zeitfensters im März des Jahres 2880 heute nicht abschließend mit vollständiger Sicherheit zu klären ist (vgl. Giorgini et al. 2002), weniger chaotisch als das Schwingen eines Doppelpendels, bei dem wenige Sekunden genügen, um kleinste Abweichungen um mehr als das Tausendfache zu verstärken (vgl. Levien/Tan 1993). Wichtig ist, dass bei dem Vergleich die Zunahme von Unsicherheit über die Zeit und die Fähigkeit, diese Zunahme zu verringern, (vgl. Draper 2011) im Mittelpunkt stehen und nicht nur die Unsicherheit der initialen Messung.
Die Frage, wie gut eine bestmögliche Vorhersage wäre, ist wichtig, weil sie mögliche Schranken wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns aufzeigt. In der Praxis zielen Vorhersagen aber häufig darauf ab, Entscheidungsprozesse zu unterstützen. Um ein wesentliches Beispiel aufzugreifen: Für den Klimawandel gilt, dass dessen Ausmaß stochastisch gut beschreibbar ist, aber trotzdem hohe Unsicherheiten enthält (vgl. Stainforth et al. 2005, Gregory et al. 2021). Ob es eines Tages möglich sein wird, diese Effekte analytisch vollständig und akkurat vorauszuberechnen, ist dabei für die aktuelle Bewertung und daraus folgende Maßnahmen unerheblich. Somit ist hier die Frage nach der intrinsischen Vorhersagbarkeit gegenüber der extrinsischen Vorhersagbarkeit, auf die Realität des Handelns bezogen, bedeutungslos.
Egal wie gut Modell und Messung sind: Beliebig lange lässt sich kein System – erst recht nicht mit absoluter Sicherheit – voraussagen. Das bedeutet jedoch nicht, dass vollständiges Unwissen über den Zustand eines Systems vorliegen muss. So mag die Wellenfunktion eines Quantenteilchens bekannt und somit seine Aufenthaltswahrscheinlichkeit bestimmbar sein, auch wenn die genaue Position unsicher bleibt. Die Existenz einer einfachen Wahrscheinlichkeitsverteilung für mögliche Zustände ist auch deshalb wichtig, weil es Chaos von Zufall abgrenzt. So ist das Werfen eines Würfels inhärent zufällig, aber trotzdem wenig überraschend, und die Menge der möglichen Ergebnisse eines Wurfs klein. Deshalb lässt sich argumentieren: Systeme sind weniger chaotisch, wenn ihr Verhalten stochastisch gut beschreibbar ist. Dagegen sind Systeme chaotischer, wenn es schwieriger ist, eine Wahrscheinlichkeitsverteilung anzugeben. Ebenso sind Systeme chaotischer, wenn die Ergebnismenge größer ist, insbesondere unendlich groß und unbeschränkt.
Zurück zur Begriffsbestimmung von Chaos: Neben der Sensitivität gegenüber kleinen Störungen ging es dabei auch um komplexe Strukturen (vgl. Hunt/Ott 2015). Letztere sind deutlich schwerer zu operationalisieren, denn was komplexe Strukturen auszeichnet, hängt in hohem Maße von wissenschaftlicher Disziplin und gewählten Theorien ab. Aus naturwissenschaftlich-technischer Perspektive führen Aziza et al. (2016) eine Reihe von Faktoren auf, die häufig komplexe Systeme auszeichnen. Die Autoren diskutieren dies zusammen mit verschiedenen Komplexitätstheorien, weisen jedoch selbst darauf hin, dass die Auswahl geeigneter Theorien in jedem Einzelfall anders zu bewerten und insbesondere auch nicht eindeutig ist (vgl. Aziza et al. 2016). Hier lässt sich festhalten, dass die Eigenschaft „komplexer Strukturen“ zwar ebenso relevant ist für die Bewertung von Komplexität wie die Sensitivität gegenüber Störungen, in der Anwendung allerdings deutlich schwieriger zu handhaben ist.
Die zugrundeliegende Begriffsbestimmung hat Chaos als Eigenschaft eines Systems beschrieben. Allerdings spielt auch die Fähigkeit individueller Beobachter*innen eine wesentliche Rolle: Die Handlungen eines Roboters mögen für Uneingeweihte erratisch wirken, für die Entwickler*innen desselben aber rational und berechenbar sein. Insofern mag ein System chaotisch wirken, auch wenn es in Essenz deterministisch ist. Das heißt auch der Begriff der extrinsischen Vorhersagbarkeit genügt nur, um die Welt von Expert*innen zu beschreiben, aber nicht, um die Wirklichkeit normaler Menschen zu erfassen.
Ähnlich lässt auch der Standpunkt der Beobachtenden im System unterschiedliche Bewertungen von Vorhersagbarkeit zu: Während viele Personen aus der Selbstwahrnehmung heraus davon ausgehen, geleitet von individuellen Motivationen und Plänen zu handeln, erscheint von außen die Bewegung von Menschen größtenteils zufällig. Trotzdem lässt sich diese Bewegung gut stochastisch modellieren und theoretisch mit vergleichsweise gutem Erfolg vorhersagen. (vgl. Song/Qu 2010)
Somit basiert die Antwort auf die Frage, ob ein System chaotisch ist und/oder chaotischer als ein anderes, auf der Auswahl der jeweiligen Beobachtenden. Dabei ist zu spezifizieren, welches Wissen den Beobachtenden zur Verfügung steht. Falls es sich dabei um idealisiertes, bestmögliches Wissen handelt, ist es wichtig genau zu definieren, was dieses enthalten würde.
Was sich im Rahmen dieses Artikels nur unzulänglich diskutieren lässt, ist welche Rolle eigentlich das Beobachten selbst spielt. Jede Beobachtung bedingt eine Interaktion mit dem beobachtenden System: Beim Pendel ist das weniger bedeutsam, wenn davon ausgegangen wird, dass der Lichtstrahl, der am Pendel gestreut wird, unser Auge erreicht und uns mitteilt, wo sich das Pendel befindet, das Experiment nicht wesentlich ändert. Taucht man jedoch in die Tiefen der Quantenmechanik, zeigt dieser Typ von Effekten fundamentale Grenzen unseres Wissens auf und das, obwohl Quantenphysik unter die Dinge fällt, die sich stochastisch sehr zuverlässig beschreiben lassen (vgl. Fließbach 2008). Dass Beobachtung die Wirklichkeit verändert, ist jedoch nicht bloß ein Problem von Physiker*innen: Der bekannte Historiker Yuval Noah Harari unterscheidet chaotische Systeme von dieser Idee ausgehend in zwei Kategorien: Systeme erster Ordnung, die sich nicht wesentlich verändern, wenn man sie misst, und Systeme zweiter Ordnung, deren Messung die Eigenschaften des Systems wesentlich beeinflusst. Hararis Beispiel dazu ist die Vorhersage des Ölpreises: Wäre es einzelnen Marktakteuren möglich, den Ölpreis für den nächsten Tag akkurat vorherzusagen, so würden diese das entsprechend nutzen und damit wiederum den Ölpreis ändern. (vgl. Harari 2013) Daraus folgt, dass Vorhersagbarkeit zwar auf den ersten Blick die Zukunft sicherer macht, in manchen Fällen aber selbst wieder zu mehr Volatilität führen kann – Vorhersage bleibt also immer eine Gratwanderung.
Abschließend betrachte das folgende Gedankenexperiment: Nimm an, ein hochmotiviertes RWTH-Forschungsteam findet im nächsten Jahr eine „Weltformel“, die jedes Problem fehlerfrei modelliert. Nimm an, dasselbe Team baut auch noch eine perfekte Messmaschine, welche jeden Teil unserer Wirklichkeit bis ins letzte Detail erfassen kann. Hat sich das mit dem Chaos dann erledigt? Das hängt davon ab: Gibt es überhaupt einen Server, der alle Messdaten speichern kann? Und gibt es einen Algorithmus, der die Weltformel tatsächlich löst? Und selbst wenn es einen solchen Algorithmus gibt, was ist dessen Laufzeit und Speicherbedarf? Nur weil ein Problem eine eindeutige Lösung hat, bedeutet das nicht, dass diese auch in akzeptabler Zeit berechenbar ist. Das gilt selbst, wenn es nur endlich viele Lösungen gibt und es im Prinzip reichen würde, alle durchzuprobieren. Somit bleibt selbst für idealisierte Systeme in der Praxis immer die Frage nach der Berechenbarkeit einer Lösung. Oder anders gesagt: Determinismus schützt zwar vor Chaos, aber nicht vor Unwissen.
Literatur
Aziza, R.; Borgi, A.; Zgaya, H.; Guinhouya, B. (2016): Simulating Complex Systems – Complex System Theories, Their Behavioural Characteristics and Their Simulation. In: van Herik, J.; Filipe, J. (Hg.): Proceedings of the 8th International Conference on Agents and Artificial Intelligence, 2. Setúbal: SCITEPRESS. S. 298–305.
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Fließbach, T. (2008): Lehrbuch zur Theoretischen Physik III. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. 5. Auflage 2012. S. 47–62.
Gregory, J.; Stouffer, R.; Molina, M.; Chidthaisong, A.; Solomon, S.; Raga, G.; Friedlingstein, P.; Bindoff, N.L.; Treut, H.L.; Rusticucci, M.; Lohmann, U.; Mote, P.; Randall, D.; Christensen, J.; Hoskins, B.; Stocker, T.; Manning, M.; Denman, K.; Lemke, P.; Jones, P.; Brasseur, G.; Meehl, G.; Nicholls, N.; Arblaster, J.; Qin, D.; Wood, R.; Heimann, M.; Hegerl, G.; Fahey, D.; Alley, R.; Berntsen, T.; Forster, P.M.; Kattsov, V.; Zwiers, F.; Ren, J.; Wratt, D.; Whetton, P.; Ramaswamy, V.; Jansen, E.; Hewitson, B.; Stott, P.; Chen, Z.; Matsuno, T.; Jouzel, J.; Overpeck, J.; Knutti, R.; Somerville, R.; Trenberth, K.; Willebrand, J.; Joos, F.; Stone, D. (2021): Climate Change 2021 – The Physical Science Basis. In: Chemistry International, 43(4). S. 22–23.
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