Utopie und Dystopie

Zum Begriff Utopie

Utopia: Im Jahr 1516 gebildeter Neologismus

Zusammensetzung von griech. οΰ [ou] ,nicht‘ und τόπος [topos] ,Ort‘, also wörtlich ein ,Nicht-Ort‘

Im Englischen ergibt sich die Konnotation ‚schöner/guter Ort‘

Im Deutschen erscheint das Wort erstmals 1524 (Morus-Übersetzung durch C. Cantiuncula)

Utopismus ist bereits 1796 belegt, während Utopist in der Bedeutung ‚Träumer‘, ,Schwärmer‘ als Lehnübertragung aus dem Französischen erstmals 1847 nachweisbar ist

Utopie

„Narrative Entfaltung eines idealen funktionierenden Gesellschaftsmodells; im weiteren Sinn auf Wirklichkeitsveränderung zum Idealzustand zielendes Denken.“

- Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft

Begriffsgeschichte "Utopie"

Prägung des Begriffs Utopie durch Thomas Morus 1516; bezeichnet zunächst das literarische Werk von Thomas Morus und das von ihm entworfene Gemeinwesen.

Utopie bezeichnet einen fiktiven Ort und dient als geographische Metapher.

Die Utopie als literarische Gattung wird als erstes von Robert von Mohl als solche identifiziert und als Staatsroman bezeichnet. Der Begriff Utopie setzt sich erst zu Beginn des 20. Jhs. durch. Der Umschlag der Utopie in ihr Gegenteil wird als Anti- Utopie, Dystopie oder negative bzw. schwarze Utopie bezeichnet.

Die Utopie wird als wirklichkeitsüberschreitende und auf ein ideales Ziel ausgerichtete Denkhaltung bezeichnet (Gustav Landauer). Der Utopiebegriff wird immer weiter ausgearbeitet (E. Bloch und K. Mannheim).

Die Utopie wird unter ‚Schlaraffenland‘ lexikalisiert – polemische Bezeichnung frühsozialistischer Entwürfe als ,unrealisierbare Vorstellungen‘; auch ‚Hirngespinst‘. Aufgrund stofflicher Überschneidungen zum sich ab 1870 herausbildenden Zukunftsroman wird auch Zukunftsliteratur (Science-Fiction) als ‚utopische Literatur‘ klassifiziert.

1516

,De optimo reipublicae statu, deque nova insula Utopia‘ von Thomas Morus (deutsche Übersetzung 1524); Morus knüpfte an Platons ‚Politea‘ an. Sein Werk bildet ein staatsphilosophisches sowie literarisches Modell, das zum Prototyp der Utopie als Gattung wird. In seinem Werk geht es um den Bericht eines Reisenden, der von der Gesellschaft auf der fernen Insel Utopia erzählt. Die Utopier leben nach ihren eigenen Gesetzen – Privateigentum gibt es nicht und jeder bekommt nur so viele materielle Güter, wie er zum Leben auch wirklich braucht.

  • Th. Morus:, Utopia‘, 1516

Denn wer anderswo vom ‚Gemeinwohl’ spricht, denkt doch überall nur an seinen Privatvorteil; hier dagegen, wo es kein Privateigentum gib, betreibt man ernsthaft die Interessen der Allgemeinheit.

Dagegen hier, wo alles Eigentum Gemeingut ist, zweifelt niemand, dass es keinem für seine Privatbedürfnisse an etwas fehlen wird, solange nur dafür gesorgt wird, dass die öffentlichen Speicher gefüllt sind. Da gibt es ja keine ungerechte Güterverteilung, keine Armen und keine Bettler, und obschon keiner etwas besitzt, sind doch alle reich.

Deshalb meinen auch die Utopier, die Natur selbst habe uns vielmehr ein angenehmes Leben, das heißt eben das Vergnügen, als Ziel aller unserer Handlungen vorgezeichnet, und nach ihrer Vorschrift leben, nennen sie Tugend.

(Thomas Morus, Utopia )

 

The End of our Foundation is the knowledge of Causes, and secret motions of things; and the enlarging of the bounds of Human Empire, to the effecting of all things possible.

at whose hands we found such humanity, and such a freedom and desire to take strangers as it were into their bosom, as was enough to make us forget all that was dear to us in our own countries: and continually we met with many things right worthy of observation and relation; as indeed, if there be a mirror in the world worthy to hold men’s eyes, it is that country.

(Francis Bacon, New Atlantis)

17. Jahrhundert

Im 17. Und 18. Jh. entstehen eine Reihe von Texten, die in der Tradition von Thomas Morus stehen:

  • V. Andreae: ,Reipublicae Christianopolitanae Descriptio‘, 1619
  • T. Campanella: ,Civitas Solis‘, 1623
  • F. Bacon: ,Nova Atlantis‘, 1627.

und weitere Werke, die utopische Modelle thematisieren:

  • Cyrano de Bergerac: ,Histoire comique contenant les estais et empires de la lune‘, 1657
  • H. J. C. v. Grimmelshausen: ,Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch‘, 1668
  • J. Swift: [Gulliver’s] ,Travels into Several Remote Nations of the World‘, 1726;
  • Voltaire: ,Micromégas‘, 1752

Ab der zweiten Hälfte des 17. Jhs. wirkt sich der Einfluss der aufblühenden Wissenschaften auf das geschlossene utopische System aus. Es macht sich eine Fiktionalisierung und Subjektivierung der Utopie bemerkbar; sie zeichnet sich durch eine dynamisierende Geschichte aus; J. G. Schnabel integriert das utopische Modell in die Robinsonade.

  • D. Veiras: ,Histoire des Sévarambes‘, 1677/ 79, dt. 1689
  • G. Schnabel: ‚Wunderliche Fata einiger Seefahrer‘, 1731-1743

18. Jahrhundert

Ab dem 18.Jh. wandelt sich die Utopie vom geschlossenen System auf einer Insel (Raumutopie) zur Zeitutopie (L. S. Mercier in ,L’An 2440′). Das statische utopische System zergliedert sich in eine Abfolge einzelner Fortschritte; das Ideal steht an ihrem Ende. Es tritt eine Entfaltung der Naturzustands-Utopien (nach Rousseau) ein und daraus ergibt sich eine Politisierung des Utopischen: es stellt sich die Frage nach der Möglichkeit ihrer Realisierung.

  • S. Mercier: ,L’An 2440′, 1771

Merket indessen, daß die herrschenden Schriftsteller, die Genies des Jahrhunderts, allezeit die Sonnen sind, die die Masse der Ideen mit sich fortreißen und in Umlauf setzen.

(Louis-Sébastien Mercier, L’An 2440)

Alles in der Welt ist Revolution

(Louis-Sébastien Mercier, L’An 2440)

Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.

(Theodor Herzl, Altneuland)

Das Ausmalen künftiger Zustände war in den Augen der sogenannten praktischen Leute eine große Lächerlichkeit. Sie vergaßen, daß wir immer in künftigen Zuständen leben, denn das Heute ist die Zukunft von gestern.

(Theodor Herzl, Altneuland)

Alles Nötige ist schon vorhanden, um eine bessere Welt zu machen.

(Theodor Herzl, Altneuland)

19. Jahrhundert

Politische Tendenzen dominieren den Utopiediskurs, der auf die Industrialisierung und die daraus entstehenden gesellschaftsformierenden Folgen und negativen Begleiterscheinungen wie Klassenauseinandersetzungen und Verelendung vieler Menschen reagiert. Die Nähe von Utopie und Kolonie wird prägend für die Fortschrittsutopie; zeitlich parallel zu den Fortschrittsutopien entsteht der Zukunftsroman, der zwar Elemente der Utopie aufgreift und Zukunftswelten entwirft, sich jedoch weniger sozialphilosophischen Fragen verpflichtet.

  • F. Amersin: ,Das Land der Freiheit‘, 1874
  • T. Hertzka: ,Freiland‘, 1890
  • T. Herzl: ,Altneuland‘, 1902

Wende 19./20. Jahrhundert

Zur Wende des 20. Jhs. kommt die positive Utopie vorläufig zum Ende. H. G. Wells verbindet die beiden Gattungen der Utopie und des Zukunftsromans miteinander und thematisiert die Konsequenzen aus der biologischen Veränderbarkeit des Menschen. Es kommt zu einer Veränderung der Tradition: Das positive Ideal der Utopie erscheint nun als totalitäre und feindliche Ordnung. Die negative Utopie oder Dystopie rückt das dem totalitären Übergriff ausgesetzte Individuum in den Vordergrund.

  • G. Wells:‚A Modern Utopia‘, 1905
  • G. Wellls: ‘The Time Machine‘, 1895
  • J. I. Samjatin: ,My’/,Wir‘, 1920
  • A. Huxley: ,Brave New World‘, 1932
  • G. Orwell: ,1984′, 1948

Nature never appeals to intelligence until habit and instinct are useless. There is no intelligence where there is no change and no need of change.

(H.G. Wells, The Time Machine)

I grieved to think how brief the dream of the human intellect had been. It had committed suicide. It had set itself steadfastly towards comfort and ease, a balanced society with security and permanency as its watchword, it had attained its hopes — to come to this at last.

(H.G. Wells, The Time Machine)

Till at last the child’s mind is these suggestions, and the sum of the suggestions is the child’s mind. And not the child’s mind only. The adult’s mind too–all his life long. The mind that judges and desires and decides–made up of these suggestions. But all these suggestions are our suggestions!” The Director almost shouted in his triumph. “Suggestions from the State.

(Aldous Huxley, Brave New World)

On each landing, opposite the lift shaft, the poster with the enormous face gazed from the wall. It was one of those pictures which are so contrived that the eyes follow you about when you move. BIG BROTHER IS WATCHING YOU, the caption beneath it ran.

There was of course no way of knowing whether you were being watched at any given moment. How often, or on what system, the Thought Police plugged in on any individual wire was guesswork. It was even conceivable that they watched everybody all the time. But at any rate they could plug in your wire whenever they wanted to. You had to live – did live, from habit that became instinct – in the assumption that every sound you made was overheard, and, except in darkness, every movement scrutinized.

WAR IS PEACE
FREEDOM IS SLAVERY
IGNORANCE IS STRENGTH

(George Orwell, 1984)

Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts

Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts entstehen weitere Romane, in denen Elemente des technischen Zukunftsromans mit Utopie-Reflexionen verbunden werden

  • G. Hauptmann: ,Die Insel der Großen Mutter‘, 1924
  • T. v. Harbou: Metropolis‘, 1926
  • F. Werfel: ,Stern der Ungeborenen‘, postum 1946
  • E. Jünger: ,Heliopolis‘, 1949

Nach 1945 werden wieder positive Utopien entworfen, die Antworten auf die neuen Problemfelder der Ökologie und Konsumgesellschaft geben.

  • F. Skinner: ,Walden Two‘, 1948
  • E. Callenbach: ,Ecotopia‘, 1975

denn die Zukunft der Menschen bleibt ihm selbst verborgen, weil, wie ein altes Wort überliefert, jeder Augenblick ein Knotenpunkt vieler Straßen ist, welche der Mensch nach Willkür wählt.

Um einen Reisebericht aus fernster Zukunft wie diesen ohne Widerstände und vielleicht sogar mit einigem Gewinn zu verfolgen, muß man sich frei machen von der verhärteten Denkweise des eigenen Zeitalters. […] Ich habe alles in allem zweieinhalb Tage und drei Nächte in der astromentalen Welt zugebracht. Doch auch das ist nur eine subjektive Aussage. Ich weiß nicht, ob es in Wirklichkeit zweieinhalb und drei Augenblicke oder Einviertelstunden oder ebensoviele Ewigkeiten waren, von denen jenes Strandgut zurückblieb, mit dem der vorliegende Band gefüllt ist.

Ihr Streben ging dahin, die Union zwischen Ich und All zu einem dauernden, dem Willen unterworfenen Zustand zu machen, der die Vergangenheit und die Zukunft, die Geschichte und die Utopie, die Erinnerung und die Ahnung aufhebt und den Menschen endlich in jene Dimension stellt, die er am genauesten zu kennen wähnt und am wenigsten kennt, in die Gegenwart, das heißt in die wirklichste Wirklichkeit.

Of course it’s right to cure diseases, to prevent hunger and injustice, as the social organism does. But no society can change the nature of existence. We can’t prevent suffering. This pain and that pain, yes, but not Pain. A society can only relieve social suffering, unnecessary suffering. The rest remains. The root, the reality.

(Ursula K. Le Guin, The Dispossessed)

The Settlers of Anarres had turned their backs on the Old World and its past, opted for the future only. But as surely as the future becomes the past, the past becomes the future.

(Ursula K. Le Guin, The Dispossessed)

1970er und 1980er Jahre

In den 1970er und 80er Jahren entsteht durch die Einflüsse der Emanzipationsbewegungen die feministische Utopie. Diese Romane kommen aus dem Traditionszusammenhang der Science-Fiction und beziehen sich auf die Konzepte der feministischen Theoriebildung.

  • K. LeGuin: ,The Dispossessed‘, 1974
  • J. Russ: ,The Female Man‘, 1975
  • M. Piercy: ,Woman on the Edge of Time‘, 1976

Ab den späten 1980er Jahren erscheinen immer weniger Werke, die sich mit utopischen Inhalten befassen; die Konjunktur der Utopie scheint abzuflachen.

Und heute?

Utopische oder dystopische Zukunftswelten sind bis heute ein prägnantes Thema in der Populärliteratur sowie in Film und Fernsehen. ‚La possibilité d’une île‘ (‚Die Möglichkeit einer Insel‘) ist ein Science-Fiction-Roman des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq aus dem Jahr 2005 – der Wunsch nach einem Leben als Insulaner in einer idealen Gesellschaft gleicht dem Urgedanken der Utopie in Thomas Morus‘ ‚Utopia‘.

Der US-amerikanische Schriftsteller Philip K. Dick lieferte mit seinem Roman ‚Do Androids Dream of Electric Sheep?‘ die Vorlage für die berühmte Filmreihe ‚Blade Runner‘ (erste Verfilmung im Jahr 1982, Verfilmung von Blade Runner 2049 im Jahr 2017). Frank Schätzing greift in seinem Roman ,Limit‘ (2009) die Vorstellung der zukünftigen Energiegewinnung durch Ressourcen aus dem Weltall auf. Die dystopische Welt in der Romanreihe ‚The Hunger Games‘ (2008-2010), geschrieben von der US-amerikanischen Schriftstellerin Suzanne Collins, ist ebenfalls weltweit erfolgreich. Düstere Zukunftsvisionen und Vorstellungen idealer Welten werden immer eine Rolle in der Literatur spielen und die Suche nach ‚Nicht-Orten‘ wird wohl niemals enden.

  • P. K. Dick:, Do Androids Dream of Electric Sheep?‘, 1968
  • M. Houellebecq:, La possibilité d‘ une île‘, 2005
  • F. Schätzing:,Limit‘, 2009
  • S. Collins:, The Hunger Games‘, 2008-2010

But our lives aren’t just measured in years. They’re measured in the lives of people we touch around us.

(Suzanne Collins, The Hunger Games)

A little hope is effective, a lot of hope is dangerous.

(Suzanne Collins, The Hunger Games)

Literatur

Friedrich, H. E. (2003): Utopie. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, 3.Bd.,3. Auflage. Berlin/New York: de Gruyter, S. 739-743.

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