Umfragen als Wissensquelle? – Eine systemtheoretische Problemskizze

Umfrage als Wissenquelle

Spätestens seit dem Brexit und der letztjährigen US-amerikanischen Präsidentschaftswahl ist die Prognosefähigkeit von Umfragen zu einem öffentlichen Thema geworden. Im Vorlauf der vergangenen Bundestagswahl mehrten sich in deutschen Medien zudem die Debatten über mögliche demokratiegefährdende Effekte demoskopischer Erhebungen. Diese Bedenken sind jedoch keineswegs neu, sondern werden bereits seit den 60er-Jahren geäußert (vgl. Donovitz 1999: 15). In diesem Artikel soll unter Zuhilfenahme systemtheoretischer Ansätze der Versuch unternommen werden, das Zustandekommen dessen zu reflektieren, was wir, besonders im Hinblick auf demokratische Wahlen, im Alltag als „Wissen“ über gesellschaftliche Zustände akzeptieren.

Wissen ist wichtiger Bestandteil eines normativen Demokratieverständnisses, da den Wählenden zugestanden wird, unter der Festsetzung eigener Präferenzen entweder direkt über inhaltliche Fragen zu entscheiden oder durch die Wahl repräsentativer Elemente die Bearbeitung umfassender Problemkomplexe zu strukturieren. Das demokratische Entscheidungen beeinflussende Wissen lässt sich in mindestens drei Arten unterteilen: So benötigt es neben dem praktischen Wissen über die genauen Abläufe als Voraussetzung der Teilnahme auch ein theoretisch-inhaltliches Wissen zur Bewertung der zur Wahl stehenden Alternativen. Insbesondere in einer parlamentarischen Demokratie kommt mit Blick auf mögliche Koalitionen oder Regierungs- und Oppositionsverhältnisse das situative Wissen hinzu, das vermeintlich aus Umfragen gewonnen werden kann. Im Gegensatz zu den erstgenannten handelt es sich bei dieser Wissensrubrik jedoch nicht um eines, das einem idealistischen Demokratieverständnis zufolge Einzug in Wahlentscheidungen halten sollte. Doch in Zeiten, in denen die Parteibindung der Wähler_innen abnimmt und die Komplexität der zu behandelnden Probleme das Wissen jedes Normalbürgers/jeder Normalbürgerin  übersteigt, ist die Zunahme des Phänomens des taktischen Wählens keine Überraschung. Statt klare inhaltliche Entscheidungen zu treffen, lässt sich der/die Wählende auf das taktische Spiel ein, das sich aus der Aufgabe, Problemlösungsprozesse vorzuzeichnen, ergibt.

Zu den Grundannahmen der systemtheoretischen Gesellschaftstheorie zählt die funktionelle Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme. Es wird angenommen, dass es anhand verschiedener Aufgaben zu einer Verselbstständigung der für die Problemlösung zuständigen Teilbereiche der Gesellschaft kommt. Die sich etablierenden Systeme bearbeiten die sich ihnen stellenden Probleme anhand einer ihnen je eigenen Logik. Durch diese autopoietische Schließung ist ein systemübergreifendes und zielgerichtetes Eingreifen unmöglich: Selbst die Politik kann andere Systeme nicht steuern, sondern lediglich durch erzeugten Output, beispielsweise in Form von Gesetzen, für einen Input sorgen, den diese anderen Systeme ihrer Eigenlogik folgend und im Vordergrund der systemintern erzeugten Komplexität verarbeiten. Bedenkt man nun, dass die meisten Umfragen von privatwirtschaftlichen Unternehmen durch wissenschaftliche Verfahren erhoben und anschließend nach massenmedialer Logik verbreitet und je nach Rezipient_in­ unterschiedlich aufgenommen werden, wird klar, dass es bei einer dermaßen heterogenen Selektions- und Motivlage schwierig ist, tatsächlich von Wissen zu sprechen.

Niklas Luhmann folgend handelt es sich auch bei den Massenmedien um ein autopoietisches Subsystem, dessen Aufgabe darin besteht, Informationen – etwas Neues, in Nicht-Information – etwas Bekanntes, zu wandeln (vgl. Luhmann 1995: 29). Die Funktion der Massenmedien besteht demnach darin, durch stetige Selbstbeschreibung der Gesellschaft ein im bestimmten Maße fluides Gedächtnis zu erhalten, indem durch ständige Informationstransformation im Vordergrund bisher verarbeiteter Informationen sich durchziehende Schemata erhalten bleiben, während andere Informationen, an die nicht weiter angeschlossen wird, vergessen werden. Anhand verschiedener Programme zur Informationsnegierung lassen sich Nachrichten, Werbung und Unterhaltung unterscheiden (vgl. ebd.: 37f.). Im Rahmen dieses Artikels ist der Programmbereich der Nachrichten von Interesse. Dort zeigt sich eine besonders spannungsvolle Konstellation: Anders als bei Unterhaltung oder Werbung erwartet der/die Rezipient_in hier einen bestimmten Wahrheitsgehalt der Information, jedoch arbeiten auch Nachrichten nach der Primärlogik Information/Nicht-Information (vgl. ebd.: 52). Die Unterscheidung Wahrheit/Nicht-Wahrheit wird erst bedeutsam, wenn das Maß an Ungleichgewicht zwischen diesen Polen existenzbedrohend wird, da die Rezipient_innen die Aufnahme von Informationen verweigern und das System seine Funktion somit nicht mehr erfüllen kann. Solange genügend Menschen Nachrichten als Informationsquelle akzeptieren, stellen Unwahrheiten lediglich ein „moralisches“ Problem der Verantwortlichen, nicht jedoch ein funktionelles Problem des gesamten Systems dar.

Was die Massenmedien als Information ansehen, unterliegt verschiedenen Selektoren. So werden u. A. Quantitäten bevorzugt, da sie mit hoher Wahrscheinlichkeit anschließende Informationen mit sich bringen: Sie ändern sich aus unterschiedlichsten Gründen ununterbrochen, so dass die entstehende Differenz eine neue Information hervorbringt (vgl. ebd.: 42ff.). Dies macht klar, wieso sich Umfragen – insbesondere Wahlumfragen, trotz verbreiteter Zweifel hinsichtlich ihrer formalen Qualitäten, einer so weitreichenden Publikation erfreuen. Eine unter Betrachtung der Formalien von Umfragen keineswegs untypische oder aussagefähige Veränderung von wenigen Prozentpunkten wird massenmedial verbreitet und automatisch vor dem Hintergrund der Ereignisse der letzten Wochen oder Tage interpretiert.

Neben den Medien hat jedoch auch das politische System Interesse an demoskopischen Erhebungen. Während in wirtschaftlichen Konkurrenzsituationen der Markt und in der Wissenschaft die Publikationen ermöglichen, sich selbst anhand der Beobachtung anderer zu beobachten, bringt das politische System Geschichten hervor, in denen Politiker_innen und Parteien, welche die umkämpfte Ressource Wahlstimme benötigen, miteinander interagieren und strukturelle Einbindungen der Akteure in den Hintergrund treten (vgl. Luhmann 2000: 292). An dieser Stelle ist es auf die Weiterverarbeitung des eigenen Outputs durch die Massenmedien angewiesen. Diese beanspruchen, der öffentlichen Meinung Raum zu geben, anhand derer die Politik ihre Selbstbeobachtung vollziehen kann. Dies erklärt, warum die publizierten demoskopischen Erhebungen überwiegend von Medien- und Politinstitutionen in Auftrag gegeben werden: Durch ihre quantitative Natur weisen sie eine extrem hohe Wahrscheinlichkeit zukünftiger Abweichung auf – nicht gleichzusetzen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit extremer Abweichung. Dieses Potenzial zukünftiger Informationsgenerierung ermöglicht vielfältige Anschlussmöglichkeiten zur medialen Kommunikation, in der sich im besonderen Maße die Politik zu spiegeln versucht. Medien und Politik sind in essentiellem Maße aufeinander angewiesen ‑ was impliziert, dass Medieninhalte und ihre Verbreitung eben nicht intentional durch die Politik gelenkt werden können.

Die bereits von Luhmann erwähnte Beschleunigung massenmedialer Kommunikation und das daraus hervorgehende Bedürfnis nach schnellerer Neuproduktion von Informationen hat durch die Digitalisierung ein zuvor kaum absehbares Ausmaß angenommen. Während Tageszeitungen früher darum rangen, bestimmte Inhalte einen Tag vor der Konkurrenz zu veröffentlichen, um so die Absatzzahlen in die Höhe zu treiben, liefern sich die Onlineredaktionen großer Zeitungen heute einen Wettstreit, in dem es auf wenige Stunden ankommt. Bedenkt man, dass für Onlinemedien Klicks gleichbedeutend mit Geld sind und jenes Medium, welches eine Information zuerst publiziert, die besten Chancen auf hohe Klickzahlen hat, wird deutlich, dass das Sprichwort „Zeit ist Geld“ an dieser Stelle in beispielloser Genauigkeit zutrifft. Man spricht, und tat dies auch bereits vor der Digitalisierung, vom sogenannten Horserace-Journalismus.

Jedoch bedarf es nicht das Aufrufen eines Artikels, sondern bereits beim, insbesondere für Online-Leser_innen unvermeidlichen, Überfliegen von Über- und Unterüberschriften entsteht durch die Aneinanderreihung vieler Informationen ein zusammenhängendes Bild. So werden auch bei ursprünglichem Nicht-Interesse an der Information die angeblichen Schwankungen der quantifizierten öffentlichen Meinung zur Kenntnis genommen und, mal mehr mal weniger bewusst, im Kontext aktueller politischer Ereignisse interpretiert, was wiederum auf die eigene Meinungsbildung einwirkt.

Mit der nun naheliegenden und nicht selten geäußerten Verdammung demoskopischer Erhebungen sollte man sich jedoch zurückhalten. Denn neben vielfältigen negativen Folgen sind auch einige positive Effekte denkbar. So können sie beispielsweise extreme gesellschaftliche Dynamiken eindämmen, indem sie die Ansprüche gewisser Gruppen, im Namen einer Mehrheit zu sprechen, objektiv zurückweisen und der tatsächlichen Mehrheit das eventuelle Gefühl nehmen, den Boden unter den Füßen zu verlieren (vgl. Deininger/ Kelberger 2017). Die massenmediale Selbstbeschreibung einer Gesellschaft nimmt zwar bereits kleinste Schwankungen auf, da sie für das System gut verwertbar sind, jedoch zeigt sie im operativen Vollzug auch deren Grenzen auf.

Es lässt sich demnach kein eindeutig positiver oder negativer Einfluss von Umfragen auf demokratische Prozesse annehmen. Jedoch sollte die Wichtigkeit der seit der Bundestagswahl wieder leicht zurückgegangenen Debatte nicht unterschätzt werden. Auch ohne alle, teils sehr strittigen, Implikationen der Systemtheorie zu akzeptieren, scheint sie in diesem Fall einen möglicherweise eigenwilligen, doch fruchtbaren Blick auf den Problemkomplex zu ermöglichen: Es braucht, um abseits systemtheoretischer Analysen normativ-demokratische Ideale, beispielsweise jenes der möglichst selbstständigen Meinungsbildung, zu wahren, eine Sensibilisierung aller beteiligten Instanzen für die Komplexität der ineinander verschränkten Prozesse. Sowohl die Demoskopie-Institute, die einzelnen Redaktionen als auch die Leser_innen müssen sich im Klaren darüber sein, welche unabsehbaren Auswirkungen die Veröffentlichung Objektivität in Anspruch nehmender Zahlen haben kann. Es handelt sich eben nicht um Wissen oder Nicht-Wissen, sondern um eine notwendigerweise kurzlebige und stets wandelbare Selbstbeschreibung eines komplexen Gesellschaftssystems anhand der Selektion und anschließenden Transformation von Informationen. Eine langsamer getaktete und detailliertere Veröffentlichung qualitativ höherwertige Erhebungen und Zeiträume, in denen sie komplett untersagt sind –  zum Beispiel in den Tagen und Wochen vor der Wahl –, wären im Gegensatz zu einem Komplettverbot, wie es manche fordern, wünschenswert. Denn eine unmittelbar an das sogenannte Kanzlerduell anschließende Veröffentlichung einer auf Grundlage einer kleinen Stichprobengröße bereits zur Halbzeit des Duells erhobenen „Umfrage“, wie es bei Anne Will geschah, ist sicher vieles, aber nicht demokratiefördernd.

Quellen

Deininger, R./ Kelnberger, J. (2017): Wahlen nach Zahlen. In: Sueddeutsche. Online verfügbar unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/umfragen-zur-bundestagswahl-wahlen-nach-zahlen-1.3657335?reduced=true [Zugriff: 19.12.2017].

Donovitz, F. (1999): Journalismus und Demoskopie. Wahlumfragen in den Medien. Berlin: VISTAS Verlag.

Luhmann, N. (1995): Die Realität der Massenmedien. 5. Auflage (2017). Wiesbaden: Springer Fachmedien GmbH.

Luhmann, N. (2000): Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

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