Mutual Aid

Chaos als Chance für neue Formen des Engagements

Überschwemmte Straßen, zerstörte Häuser und Erdrutsche, die ganze Ortschaften von der Außenwelt abschnitten: Das Tiefdruckgebiet „Bernd“ brachte im Juli 2021 eine starkregenbedingte Flutkatastrophe mit sich, die vielerorts für Chaos sorgte. Chaos auf Seiten der Bewohner*innen, die unerwartet auf sich selbst gestellt waren, und auf Seiten der Kommunal- und Landesregierungen, die sich mit den sintflutartigen Niederschlägen konfrontiert sahen. Im Anschluss an Extremwetterereignisse greifen etablierte individuelle und organisationale Handlungsroutinen nicht mehr: Betroffene und Behörden müssen sich ad hoc reorganisieren, um Personen- und Sachschäden zu reduzieren. Vor dem Hintergrund der Flutkatastrophe im Ahrtal drängt sich die Frage nach sozialen (Re-)Organisationsprozessen auf:

Welche Strategien zur sozialen Reorganisation entwickeln Betroffene, wenn infolge krisenhafter Ereignisse wie Starkregen oder Sturzfluten die bestehende soziale Ordnung temporär außer Kraft gesetzt ist? Und: Lassen sich solche Krisen durch die „nicht für möglich gehaltenen Erfahrungen kollektiver Selbstwirksamkeit und politischer Handlungsfähigkeit“ (Rosa 2021: 203) als individuelle und kollektive Chancen verstehen, neue Formen der gegenseitigen Hilfeleistung zu etablieren?

Lokale Starkregenzellen sind meteorologisch schwierig zu identifizieren und zu prognostizieren, dennoch gilt es als sehr wahrscheinlich, dass deren Häufigkeit und Intensität in Folge des Klimawandels steigen (vgl. DWD 2021,; Lengfeld et al. 2021). Vorausgesetzt, dass sich klimawandelbedingte Krisen häufen und gegenseitig verstärken, lohnt es sich, den Fokus „auf eine Krisendynamik zweiter Ordnung, nämlich die ‚Krise des Krisenmanagements‘“ (Lessenich 2020: 220) zu richten.

Das Krisenmanagement der öffentlichen Institutionen steht vor der Herausforderung sogenannter multipler Krisen, d.h. einer neuen Welt- und Gesellschaftsformation, die systematisch verschiedene Krisen (wirtschaftlich, politisch, ökologisch) produziert, zwischen denen komplexe Wechselwirkungen entstehen (vgl. Brand 2009). Um einen Umgang mit multiplen Krisen zu finden, sollte der innere Zusammenhang der Krisendynamiken identifiziert werden (vgl. ebd.). Dieser liegt in der „fossilistisch-kapitalistischen Produktions- und Lebensweise“ (Brand 2009: 2). Krisen sind insofern „formationscharakteristische Phänomene“ (Lessenich 2020: 220), als sie mit unserer Gesellschaftsformation, mit unserer sozialen Ordnung im Zusammenhang stehen, die wesentlich durch kapitalistisches Wirtschaften geprägt ist. Folgerichtig wird die Zahl reziproker Krisen zunehmen, es sei denn, das globale Wirtschafts- und Konsumsystem ändert sich.

Flutkatastrophen können auch als Krise der sozialen Ordnung interpretiert werden, weil sie einen „Einschnitt in die vorherrschenden sozioökonomischen und politischen Interaktionsmuster und Prozessketten“ (Rosa 2020: 192f.) darstellen. Es ist davon auszugehen, dass für diese Krisenmomente kaum etablierte Handlungsschemata oder gar -routinen vorliegen, weder für Organisationen noch für Individuen, sodass sich Chancen für die Rekonfiguration der bestehenden Muster ergeben. „Dies sind die seltenen historischen Momente, in denen soziale Akteure Geschichte wirklich machen können, in denen es stärker als zu anderen Zeiten auf ihr Handeln ankommt.“ (Rosa 2020: 204)

Es lassen sich mindestens zwei Strategien sozialer Reorganisation formulieren, die sich eröffnen, wenn wetterbedingtes Chaos die bestehenden Handlungs- und Interaktionsmuster in Frage stellen: (a) In Folge der (temporären) Handlungsunfähigkeit kommunaler bis nationaler Institutionen – etwa, weil Behörden und Einsatzkräfte keinen oder nur begrenzten Zugang zu betroffenen Ortschaften haben – können sich die Akteure gegeneinander wenden. Sie könnten die Abwesenheit der Exekutive nutzen, um sich durch Plünderungen in der Nachbarschaft zu bereichern. Oder (b) die Betroffenen können sich vor Ort für die gegenseitige Hilfe entscheiden. Ersteres blieb weitestgehend aus, auch wenn es im Ahrtal zu Plünderungen kam (vgl. SPON 2021). Phänomene der gegenseitigen Hilfeleistung wurden von der Presse unter dem Stichwort Mutual Aid diskutiert (vgl. Tolentino 2021). Ein Konzept, das von Peter Kropotkin als Ergänzung der darwinistischen Evolutionstheorie entwickelt wurde.

Mit dem Konzept des Mutual- Aid konfrontierte Kropotkin darwinistischen Ansätze, die u.a. von Herbert Spencer auf die soziale Welt übertragen und als survival of the fittest oder law of nature (Stichwort: Sozialdarwinismus) popularisiert wurden (vgl. Kropotkin 1902; Beetz 2010). Survival of the fittest, d.h. den Kampf aller gegen aller als Naturgesetz und darüber hinaus als Motor gesellschaftlichen Fortschritts zu begreifen, wäre weder bewiesen noch hinreichend beobachtet (vgl. Kropotkin 1902). Stattdessen spricht Kropotkin vom Instinkt zur Solidarität als zweiten relevanten evolutionären Faktor:

„It is not love to my neighbour – whom I often do not know at all – which induces me to seize a pail of water and to rush towards his house when I see it on fire; it is a far wider, even though more vague feeling or instinct of human solidarity and sociability which moves me. (…) It is a feeling infinitely wider than love or personal sympathy – an instinct (…) which has taught animals and humans alike the force they can borrow from the practice of mutual aid and support, and the joys they can find in social life. (...) It is the conscience – be it only the stage of an human instinct – of human solidarity.” (Kropotkin 1902: 4)

Heute werden Mutual Aid-Initiativen als lokale, informelle und soziale Netzwerke gegenseitiger Hilfe definiert, die konsensorientiert, hierarchiefrei, antiautoritär, solidarisch und somit explizit politisch ausgerichtet sind (vgl. Cortez/Kamba 2020). Mutual Aid richtet sich gegen klassisches ehrenamtliches Engagement, weil dieses zunehmend Ausdruck eines neoliberalen Outsourcings sozialstaatlicher Pflichten in private und privatwirtschaftliche Hände sei, sodass Wohltätigkeit zum Charakteristikum eines spezifisch neoliberal-exklusiven Lebensstils kultiviert wird, welcher Solidarität zugunsten sozialen Prestiges verdrängt (vgl. Lachowicz/Donaghey 2021). Lessenich spricht hier von dem „Umbau sozialstaatlicher Institutionen zu Ermöglichungsagenturen aktiver Eigenverantwortung“ (Lessenich 2008: 83f.). Mit anderen Worten: Eine ehrenamtliche Tätigkeit auszuüben wird zum Ausdruck eines aktiven Lebensstils stilisiert, den sich nur manche leisten können, und, vice versa, wer sich nicht ehrenamtlich betätigt, gilt als unmoralisch und asozial. Mutual Aid sei deshalb eine politische Praxis konträr zum Ehrenamt und außerhalb des neoliberalen Mindsets, weil sie solidarische (Selbst-)Hilfe und politischen Protest vereint, indem sie über die Lücken staatlicher Fürsorge aufklärt und Hierarchien meidet (vgl. Lachowicz/Donaghey 2020).

Tolentino (2020) listet auf, wie Mutual Aid-Initiativen im Kontext der Corona-Pandemie aussehen können: Lebensmittellieferdienste für immobile Personen, Spendenkonten für auftragslose Freiberufler*innen, Studierende, die sich mit Mensa-Mahlzeiten versorgen. Der Mutual Aid Hub verzeichnet mittlerweile hunderte lokale Mutual- Aid Networks in den USA (siehe https://www.mutualaidhub.org), die inhaltlich sowie organisatorisch variieren und – trotz der Referenz im Namen – selten direkten politischen Bezug aufweisen. Ganz anders das Mutual Aid Desaster Relief-Network (MADR): Es ist spezialisiert auf die Katastrophenvor- und Nachsorge im Kontext politischer Arbeit (siehe https://mutualaiddisasterrelief.org) und stellt gewissermaßen einen Idealtyp für das Implementieren des linkspolitischen Mutual Aid-Konzepts in die Katastrophenhilfe dar.

Im Ahrtal wurden Initiativen nach der Flutkatastrophe durch die Gründung zahlreicher ehrenamtlicher Vereine und gemeinnütziger Organisationen (Die AHRche e.V., helpundfun Ahrtal, Fluthilfe-Ahr e.V., Helfer-Stab Hochwasser Ahr) institutionalisiert oder in digitale Formate überführt (Ahrhelp, HelferShuttle). Die politische Artikulation der Folgen der Flutkatastrophe beschränkt sich auf vereinzelte Demonstrationen der Anwohner*innen, die sich gegen die nach wie vor schleppende Auszahlung staatlicher Wiederaufbaufonds richten (vgl. SPON 2022).

In einem Vergleich von ehrenamtlichem Engagement und Mutual Aid kommen Lachowicz und Donaghey (2020) zu dem Schluss, dass auch die meisten Mutual Aid-Initiativen einer pragmatischen (also einer neoliberal-konformen) Agenda folgen, ohne systemische Ursachen zu thematisieren: „As in the most street-level mutual aid groups, the expression of political opinions was often frowned upon by participating neighbours – the clear priority was filling the ‚gap‘ and addressing need, regardless of the systemic cause of that need.” (Lachowicz/Donaghey 2020: 15) Sowohl die Mutual-Aid Initiativen als auch die Initiativen im Ahrtal adressieren zwar offensichtliche sozialstaatliche Leerstellen, die Individuen in Eigenregie, d.h. selbstständig, selbstorganisiert und spendenbasiert unter Aufwendung ihrer zeitlichen, sozialen und monetären Ressourcen füllen. Sie sind daher als Chance sozialer Reorganisation zu verstehen, weil sie lokale Soforthilfe im Katastrophenfall gewährleisten, Räume „kollektiver Selbstwirksamkeit und politischer Handlungsfähigkeit“ (Rosa 2020: 203) eröffnen, kommunal-solidarische Communities fördern und sich die Beteiligten Fähigkeiten aneignen, dank derer sie in zukünftigen Katastrophenfällen soziale Reorganisationsprozesse anleiten können.

Mutual Aid, wie die des MADR, geht jedoch dahingehend über die Ahrtal-Initiativen hinaus, als dass sie ihre Aktivität an politischen Leitlinien orientiert und die Leerstellen staatlicher Fürsorge politisch artikuliert. Mutual Aid kombiniert Prozesse sozialer Reorganisation mit dem emanzipatorischen Anspruch, den inneren Zusammenhang der „multiplen Krise“ zu identifizieren und gewinnt somit gesellschaftspolitische Relevanz. Mit den Worten Markus Schroers:

„Die Menschen überall auf der Welt bekommen ein Stück zu sehen, dass sie selbst in Szene gesetzt haben, wenn auch mit unterschiedlich intensiver Beteiligung und in unterschiedlichen Rollen und Funktionen. Was sie auf den heimischen Bildschirmen zu sehen bekommen – die Flutkatastrophen, Überschwemmungen, Bodenzerstörungen, Wasserverschmutzungen, Feuerbrünste und nun die Millionen Opfer der Pandemie – ist in wachsendem Maße als die nicht-intendierten Folgen ihres eigenen Tuns anzusehen. Dies vollumfänglich zu begreifen und die nötigen Schlüsse daraus zu ziehen, ist die eigentliche Herausforderung unseres gegenwärtigen Zeitalters.“

Literatur

Beetz, M. (2010): Das unliebsame System. Herbert Spencers Werk als Prototyp einer Universaltheorie. In: Zeitschrift für Soziologie, 39(1), S. 22–37.


Brand, U. (2009): Die multiple Krise. Dynamik und Zusammenhang der Krisendimensionen, Anforderungen an politische Institutionen und Chancen progressiver Politik. Berlin: Heinrich Böll Stiftung.


Cortez, A.; Kaba, M. (2020): Mutual Aid 101. #WeGotOurBlock. Online verfügbar unter: https://gdoc.pub/doc/e/2PACX-1vRMxV09kdojzMdyOfapJUOB6Ko2_1iAfIm 8ELeIgma21wIt5HoTqP1QXadF01eZc0ySrP W6VtU_veyp? [Zugriff: 23.05.2022].


DWD Deutscher Wetterdienst / Extremwetterkongress (2021): Was wir heute über das Extremwetter in Deutschland wissen. Offenbach am Main.


Kropotkin, P. (1902): Mutual Aid. A Factor in Evolution. Middletown: McClure, Philips & Company.
Lachowicz, K.;

Donaghey, J. (2021): Mutual aid versus volunteerism: Autonomous PPE production in the Covid-19 pandemic crisis. In: Capital and Class, November 2021. S. 1–21.


Lengfeld, K; Walawender, E.; Winterrath, T.; Becker, A. (2021): CatRaRe: A Catalogue of radar-based heavy rainfall events in Germany derived from 20 years of data. In: Meteorologische Zeitschrift, 30(6). S. 469–487.

Lessenich, S. (2008): Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus. Bielefeld: transcript Verlag.

Lessenich, S. (2020): Soziologie – Corona – Kritik. In: Berliner Journal für Soziologie, 30(2). S. 215–230.


Rosa, H. (2020): Pfadabhängigkeit, Bifurkationspunkte und die Rolle der Soziologie. Ein soziologischer Deutungsversuch der Corona-Krise. In: Berliner Journal für Soziologie, 30. S. 191–213.


Schroer, M. (2022): Geosoziologie. Die Erde als Raum des Lebens, Berlin: Suhrkamp Verlag.


SPON Spiegel Online (2021): Verwesung, Plünderungen, schlechte medizinische Versorgung. In: Spiegel Panorama, 29.06.2021. Online verfügbar unter: https://www.spiegel.de/panorama/ flutkatastrophe-verwesung-pluenderungen-schlechte-medizinische-versorgung-a-14e227cd-b852-4a4a-b472-7a0a0da62b00 [Zugriff: 23.05.2022].


SPON Spiegel Online (2022): „Viele von uns sind traumatisiert“. In: Spiegel Panorama, 12.05.2022. Online verfügbar unter: https://www.spiegel.de/panorama/ gesellschaft/flutkatastrophe-demo-in-ahrweiler-viele-von-uns-sind-traumatisiert-a-13b0abf6-1011-4b38-80e0-bfbeefa4f90b [Zugriff: 07.06.2022].


Tolentino, J. (2020): What Mutual Aid Can Do During a Pandemic. In: The New Yorker, 11.05.2020. Online verfügbar unter: https://www.newyorker.com/magazine/ 2020/05/18/what-mutual-aid-can-do-during-a-pandemic [Zugriff: 23.05.2022].

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