Music Overkill – Der Weg des Musikhörens vom Notendruck bis zum Streaming

Grammophon, Radio, Schallplatte, CD, Digitalisierung und Streaming – nicht nur die Musik selbst hat sich in den letzten 100 Jahren grundlegend weiterentwickelt, insbesondere die Abspielmedien haben sich kontinuierlich verändert und damit das Hörverhalten nachhaltig beeinflusst. Die umsatzgetriebene Musikindustrie reagiert auf die veränderten Konsummuster – für Musikliebhaber nicht immer in positivem Sinne.

Ohne Frage ist Musik heute ein in nahezu allen Gesellschaften für fast alle Menschen verfügbares Konsumgut, hinter dem eine milliardenschwere Industrie steht. Das war nicht immer so. Erst mit der Erfindung des Grammofons 1887 konnte sich Musik vom dynamischen, interaktiven Unterhaltungserlebnis, also von dem aktiven Hören während einer real anwesenden Kapelle, eines Orchesters, eines Instruments oder einer Stimme, zum statischen Produkt wandeln (vgl. Deutsches Patent- und Markenamt 2017; vgl. Kusek/ Leonhard 2006: 12). Den Einzug ins Wohnzimmer schaffte die Musik mit der Verbreitung des Radios während des Zweiten Weltkriegs. Musikstücke privat und kostengünstig zu besitzen wurde anschließend mit Hilfe der langspielenden Vinyl-Schallplatte ab den 1950er Jahren für die breite Masse möglich (Hübner 2009: 32). In den Alltag wurde Musik schließlich durch Kassette und Walkman getragen, neben dem mobilen Abspielen war nun auch die selbstständige Aufzeichnung möglich. Ab 1982 konnte die CD wegen der hohen Klangqualität und des geringen Volumens sowohl die Schallplatte als auch die Kassette nach und nach fast vollständig verdrängen (Endres/ Ziegler 2018). Durch stetig steigende Verkaufszahlen insbesondere der CD wuchs der Umsatz der Musikindustrie konstant und erreichte im Jahr 1997 mit über 2 Milliarden Euro allein in Deutschland sein Maximum (vgl. Bundesverband Musikindustrie e.V. 2017: 5).

Die Erfindung des MP3-Formats beendete den Siegeszug der analogen Abspielmedien und machte Musik zum digitalen Gut. Damit änderte sich auch das Konsummuster drastisch. Wurde Musik bis dahin in überschaubaren Mengen verschenkt, getauscht und überspielt, konnten Musikstücke nun in nahezu unbegrenzter Anzahl beispielsweise über die Filesharing Plattform Napster (ab 1999) kostenlos und meist illegal ausgetauscht und heruntergeladen werden. Der Musikkonsum nahm drastisch zu – die Kaufbereitschaft ging aber genauso drastisch zurück. Darunter litten vor allem Künstler und Labels, die deutlich weniger Tonträger verkaufen konnten. Napster musste nach nur anderthalb Jahren vom Netz gehen, hatte den Musikkonsum aber bereits nachhaltig verändert. Die Musik hatte einen großen Teil ihrer „Besonderheit“ verloren, die sich für den Konsumenten in Form von hohen Preisen, geringer Quantität und hoher Qualität bemerkbar machte und ihn im Idealfall an den künstlerischen Wert einer Musikproduktion erinnerte. Durch die Digitalisierung der Musik war der Besitz tausender Musikstücke plötzlich problemlos möglich und die Beschaffung stellte keine Hürde mehr dar; Musik war nun beliebig vervielfältig- und austauschbar, es mussten keine teuren CDs mehr gekauft werden und man konnte sich die Musik problemlos von seinen Freunden oder auf illegalem Wege besorgen. Die durch die Komprimierung leidende Soundqualität und die fehlende Wertschätzung des Künstlers waren dabei zweitrangig.

Wirtschaftlich profitabel wurde die digitale Musik erst mit Einführung der Plattform iTunes 2003, auf der Musik kostenpflichtig und legal zum Download angeboten wurde. Der Umsatzrückgang konnte jedoch auch durch Download-Portale nicht aufgehalten werden. Als Beispiel: 2010 wurden in Deutschland zwei Drittel aller Alben, umgerechnet etwa 900 Millionen Songs, illegal heruntergeladen (vgl. Bundesverband Musikindustrie e.V. 2012: 8). Plattformen wie YouTube ermöglichten den Musikkonsum auch in abgelegenen Orten der Erde, Musikvideos wurden von einigen Künstlern mehr und mehr dazu genutzt, sich zu vermarkten, ins Gespräch zu kommen oder Produkte zu platzieren. Die eigentliche Musik, Produktion und Kreativität, geriet zunehmend in den Hintergrund.

Hörgewohnheiten in Deutschland: Prozentuale Anteile an der Gesamtzeit des Musikhörens (Bundesverband Musikindustrie e.V., 2017).

Die Bereitschaft, wieder für den Musikkonsum zu zahlen, änderte sich erst mit der Verbreitung von Streamingdiensten wie Spotify, Deezer und Co. ab dem Jahr 2006. Ob die Wertschätzung der Musik durch das Streaming steigt, bleibt aber fraglich. Eine Bezahlung von ca. 0,007 $ an den Rechteinhaber der Musik pro abgespieltem Song spricht dagegen (Grundberg 2013).

Nach der ersten großen „Revolution“, der Digitalisierung der Musik, kann im Musikstreaming der zweite große Umbruch gesehen werden. Die Konsumenten bestehen nicht mehr darauf, die Musik zu besitzen, sie erwarten jedoch Zugang zu allen existierenden Musikstücken (aktuell 35 Millionen Songs allein auf Spotify). Musik ist immer weniger als ein geschätztes „Kulturgut“ zu sehen, sondern vielmehr ein konstantes Hintergrundrauschen oder ein Mittel zur Langeweile-Bewältigung. So wurden allein in Deutschland im Jahr 2017 56,4 Milliarden Songs gestreamt (vgl. Bundesverband Musikindustrie e.V. 2017: 15). Das Musikstreaming führt also endgültig zum Music Overkill und verändert das Hörverhalten vom emotionalen, sentimentalen, assoziativen und distanziertem zum diffusen und passiven Hören.

Die Art, Musik zu konsumieren, verändert in gleichem Maße die Art, Musik zu machen. Eine Studie zeigt, dass beim Streaming fast 25 % aller gespielten Songs in den ersten fünf Sekunden abgebrochen werden. Lediglich die Hälfte der Nutzer hört den Song bis ans Ende. Für die Musikproduktion heißt das: sofort zur Sache kommen, kein unnötiges Intro, in den ersten 15 Sekunden muss die Melodie im Kopf des Hörers angekommen sein. Künstler verzichten auf das Albumformat und veröffentlichen stattdessen regelmäßig Singles, um in den wichtigsten Playlists zu landen, das Intro eines Songs verkürzt sich stetig. Solange ein Interpret bzw. ein Plattenlabel mit Musik Geld verdienen möchte, ist die Musik zunehmend weniger Ausdruck künstlerischen Schaffens als Mittel zur Gewinnmaximierung. (vgl. Lamere 2014; vgl. Léveillé Gauvin 2017)

Musik zu entdecken, wird für den Konsumenten immer schwieriger. Der Algorithmus sammelt Daten (Tipp: Eigenes Hörverhalten unter spotify.me kennenlernen) und schlägt auf dieser Grundlage für uns unbekannte Musik des gleichen und für uns bekannten Genres vor. Da es oft aber auch nicht mehr um die Qualität oder den Textinhalt geht, wird der Versuch des „Ausbruchs“ aus dem einmal festgelegten Konsum- bzw. Genremuster erst gar nicht unternommen. Die Varietät der Musik und das damit verbundene Erlebnis neuer Klangmuster und -formen geht oftmals verloren.

Neben dem Streaming spielt jedoch auch das Radio noch immer eine zentrale Rolle: Mit 37 % macht es für die meisten den größten Anteil der Gesamtzeit des Musikhörens aus (vgl. Bundesverband Musikindustrie e.V. 2017.: 25). Mit dem Radio erreicht das diffuse und passive Hören sein Maximum, denn oftmals hört man im Auto, in der Küche oder im Supermarkt überhaupt nicht mehr zu.

Sicherlich lässt sich die Entwicklung auch hier nicht verallgemeinern. Wer sich heute für Musik interessiert, wird sich trotzdem breit informieren und moderne Angebote wie Musikblogs, Magazine oder Facebook nutzen. Auch Konzerte, die ein nur singulär erlebbares Ereignis und damit das Gegenteil zum heutigen Musikkonsum darstellen, sind weiterhin populär. Und wie in jedem Bereich der digitalen Revolution ist ein Gegentrend auf dem Vormarsch. Mit 3,3 Millionen verkauften Tonträgern im Jahr 2017 in Deutschland ist die Schallplatte zwar immer noch ein Nischenprodukt, demonstriert aber den Willen einiger Konsumenten zurück zum emotionalen und sentimentalen Musikhören.

Trotzdem hat sich die Art, Musik zu erleben und zu konsumieren, nachhaltig und drastisch verändert. Musik wird nur noch selten als Genuss, authentische Erfahrung oder Erlebnis wahrgenommen, sondern vielmehr als allgegenwärtiges und immer verfügbares Konsumgut vorausgesetzt. Dies führt in letzter Instanz dazu, dass sich auch die Musikindustrie an verändertes Hörverhalten anpasst. Vielfalt, Eigenartigkeit und künstlerische Freiheit in der Musik bleiben dabei zumindest im Mainstream oft auf der Strecke.

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Literatur

Bundesband Musikindustrie e.V./ PhonoNet GmbH (Hg.) (2017): Musikindustrie in Zahlen 2017. Berlin.

Bundesverband Musikindustrie e. V./ PhonoNet Gmbh (Hg.) (2012): Musik im digitalen Wandel. Eine Bilanz aus zehn Jahren Brennerstudie. Berlin.

Deutsches Patent- und Markenamt (2017): 130 Jahre Grammophon. Ein Patent begründet den Musikmarkt. In: Das DPMA, 09.05.2018. Online verfügbar unter: https://www.dpma.de/dpma/veroeffentlichungen/aktuelles/meilensteine/130jahregrammophon/index.html [Zugriff: 11.05.2018].

Grevener, K. (2017): Geschichte der Tonträger. Die Schallplatte. In: ARD Planet Wissen, 04.07.2017. Online verfügbar unter: https://www.planet-wissen.de/kultur/musik/geschichte_der_tontraeger/pwiedieschallplatte100.html [Zugriff: 11.05.2018].

Grundberg, S. (2013): Spotify Reveals the Math Behind Its Music Royalties. Streaming Service Pays Less Than a Penny for Each Use. In: The Wall Street Journal, 03.12.2013. Online verfügbar unter: https://www.wsj.com/articles/spotify-reveals-the-math-behind-its-music-royalties-1386116402 [Zugriff: 11.05.2018].

Hübner, G. (2009): Musikindustrie und Web 2.0. Die Veränderung der Rezeption und Distribution von Musik durch das Aufkommen des „Web 2.0“. Frankfurt am Main: C.H.Beck. 1. Auflage 2009.

Kusek, D./ Leonhard, G. (2006): Die Zukunft der Musik. Warum die digitale Revolution die Musikindustrie retten wird. Musikmarkt Verlag. 1. Auflage 2006.

Lamere, Paul (2014): Music Machinery. In: The Skip, 02.05.2014. Online verfügbar unter: https://musicmachinery.com/2014/05/02/the-skip/ [Zugriff: 11.05.2018].

Léveillé G. H. (2017): Drawing listener attention in popular music: Testing five musical features arising from the theory of attention economy. Hannover: Musicae Scientiae.

 

 

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