Lie to me

Der Psychologe Carl Rogers (Rogers 1981: 66) prägte mit seiner Persönlichkeitstheorie des Humanismus maßgeblich die moderne Persönlichkeitsforschung. So wird dem Menschen ein hohes Potential zur Selbstverwirklichung und Selbstentwicklung zugeschrieben. Annahme ist auch, dass der Mensch in seinem Wesen grundsätzlich aufrichtig und gut ist. Doch seien wir mal ehrlich: Wir alle lügen hin und wieder. Von kleinen Unwahrheiten, die unseren Alltag komfortabler gestalten, über den Lebenslauf, der völlig selbstverständlich ein wenig „gebügelt“ wurde, bis hin zu gefälschten Dokumenten oder Betrug. Ob nun gute Absichten, Scham oder Manipulation das Motiv sind. Lügen sind Lügen. Doch ist das wirklich so? Was passiert mit der Psyche eines Menschen, wenn er aus unterschiedlichen Gründen regelmäßig zu kleinen Lügen greift oder sich gar ein ganzes Konstrukt einer falschen Identität über lange Zeit hinweg aufbaut? Ist es in Ordnung, zugunsten der Gefühle anderer nicht völlig aufrichtig zu sein, oder verleitet uns das dazu, immer häufiger unehrlich zu sein, weil es einfacher erscheint? Der Artikel soll anhand aktueller Erkenntnisse psychologischer und sozialwissenschaftlicher Forschung darstellen, wie Menschen die Fähigkeit zum Lügen entwickeln und worin sich kleine Unwahrheiten von einer Pathologie abgrenzen lassen. Zudem soll erörtert werden, wie sich Unwahrheiten auf unsere Identität auswirken und welche Folgen es mit sich bringen kann, große Teile der eigenen Person dauerhaft geheim zu halten oder gar verschweigen zu müssen.

Was ist eine Lüge?

Forschende aus dem Bereich der Psychologie sind sich in einem Punkt einig: In unserem Alltag wird viel gelogen, eigentlich täglich (vgl. Schmid 2000). Obwohl Lügen in Kulturkreisen weltweit eher negativ besetzt ist, so scheinen gewisse Unehrlichkeiten an einigen Stellen unvermeidbar, sei es aus Höflichkeit oder zum Selbstschutz (vgl. Serota et al. 2010: 2). Nur wenige Menschen sind dabei in der Lage, intuitiv aufgrund verbaler und nonverbaler Merkmale zu entscheiden, wann das Gegenüber tatsächlich lügt. Je nach Disziplin oder Perspektive gibt es unterschiedlichste Definitionen der „Lüge“. Nach Jaune Masip et al. (2004) enthalten all diese Definitionen mindestens eine der drei folgenden Komponenten: Objektive Falschheit eines Sachverhaltes, Bewusstsein für die Falschheit und Intention der Täuschung. Entscheiden wir uns also bewusst für eine Lüge, kommunizieren wir dem Gegenüber eine Unwahrheit, derer wir uns bewusst sind und damit beabsichtigt einen Betrug vollziehen.

Lügen in der kognitiven Entwicklung

Schon in der frühen Kindheit wird das Konzept der Lüge relevant und repräsentiert einen wichtigen Teil der kognitiven Entwicklung. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen moralischer, emotionaler und sozialer Entwicklung. Mit einem Lebensalter von 2 Jahren erlernen Kinder ein erstes Bewusstsein dafür, dass sie in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt stehen und ihr Verhalten für andere Menschen im Umfeld eine bestimmte Bedeutung einnehmen kann. Die sogenannte „Theory of Mind“ (vgl. Kümmerling 2011) wird darüber definiert, inwiefern sich ein Mensch in Gedanken-, Imaginations- und Gefühlswelten anderer hineinversetzen und dies mit dem eigenen Handeln verknüpfen kann. Diese Fähigkeit entwickelt sich ab einem Alter von ca. 4 Jahren und nimmt bis ins Jugendalter an Komplexität zu. Mit zunehmenden kognitiven Fähigkeiten steigt auch die Komplexität für das Verständnis von Unwahrheiten sowie die eigenen Möglichkeiten, andere Menschen anzulügen. Werden Lügen von Kleinkindern zunächst als „schlecht“ bewertet, erkennen Schulanfänger, dass sogenannte „Prosoziale Lügen“ in bestimmten Kontexten angemessen erscheinen (Kümmerling/Meibauer 2011).

Lügen in der psychologischen Forschung

Auf neuropsychologischer Ebene verlangen Lügen eine hohe Kapazität von Gedächtnisleistung, Selbstbeherrschung und Einfühlungsvermögen ab, sodass viele kognitive Prozesse involviert sind (vgl. Sun et al. 2013: 349). Jeffrey Walczyk et al. (2003) beschreiben einen dreistufigen Prozess bei der Konstruktion einer Lüge. Wir bekommen von unserem Gegenüber eine Frage gestellt (1), treffen eine Entscheidung bezüglich der Ehrlichkeit/Unehrlichkeit (2) und konstruieren schließlich die Lüge (3). Zudem sind wir in der Lage, den Impuls zur Unehrlichkeit zu unterdrücken, wenn eine Lüge als erfolglos eingestuft werden könnte.

Mithilfe moderner bildgebender Verfahren wie beispielsweise der Magnetresonanztomographie (MRT) ist die Forschung in der Lage, Einblicke in die neurophysiologischen Prozesse bei unterschiedlichen Formen des Lügens zu erhalten. So zeigen Studien, dass bei der Generierung einer Lüge vor allem der präfrontale Kortex unseres Gehirns hohe Aktivitätsmuster zeigt. Dieser Teil des menschlichen Gehirns ist unter anderem für willentliche Entscheidungen und komplexe Planungsvorgänge in sozialen Kontexten relevant. Kommt es in der Kommunikationssituation zur konkreten Täuschung des Gegenübers, so lassen sich ebenfalls erhöhte Aktivitäten im Bereich der Amygdala abbilden (vgl. Karim/Fallgatter 2012: 5). Als Teil des limbischen Systems beeinflusst diese Hirnregion maßgeblich unsere Emotionen. Neben der Relevanz einzelner Hirnregionen und für Konstruktion und Kommunikation von Unwahrheiten stellt sich weiterführend die Frage, inwiefern häufiges Lügen sich auf Psyche und Kognition auswirken kann. Spannend erscheint hier die Arbeit von Garrett et al. (2016). Die Studie zeigt, dass die Anzahl an produzierten Lügen bei regelmäßiger Täuschung in einem experimentellen Szenario stetig zunimmt, sodass es Menschen nach und nach einfacher fällt, zu lügen. Diese Veränderungen können auch im MRT sichtbar gemacht werden. Sind Personen häufiger unehrlich, reduziert sich die Aktivität um das Gebiet der Amygdala signifikant. Profitiert jemand primär selbst von einer Lüge, verstärkt sich dieser Effekt sogar noch. Eine mögliche Interpretation ist die sinkende emotionale Erregung, wenn Täuschungen für das Individuum routinierter werden.

Lügen als Pathologie

Tatsächlich geht aus der Forschung hervor, dass ein Großteil der Menschen durchaus einen „moralischen Kompass“ in sich trägt und selbst regulieren kann, sich bewusst gegen das Lügen zu entscheiden. Kleine Unwahrheiten stellen also noch keine Pathologie dar. Eine ernstzunehmende Persönlichkeitsstörung beginnt, wenn permanente Unwahrheiten ein konkretes Verhalten bei den Betroffenen hervorrufen sollen und dabei seitens der lügenden Person keinerlei Schuldbewusstsein existiert. Das krankhafte Lügen, in der Psychologie „Pseudologia Fantastica“ genannt, ist eine extreme Form der Konstruktion von Unwahrheiten und kann als Symptom der narzisstischen Persönlichkeitsstörung auftreten. In der Alltagssprache wird häufig auch die Begrifflichkeit „Münchhausen Syndrom“ verwendet. Im Zentrum der Problematik steht der ständige Drang der Selbstinszenierung und der Befriedigung des Geltungsbedürfnisses. Häufig enthalten die aufwendigen Lügengeschichten einen wahren Kern und die Betroffenen konstruieren über Jahre hinweg Unwahrheiten um die eigene Identität, die sie mitunter irgendwann selbst für korrekt halten. Vor allem auf sozialer Ebene kann der Schaden für enge Kontaktpersonen hoch sein, wenn das Gegenüber bezüglich prägender Lebensereignisse oder beruflichem Werdegang derart komplexe Lügengeschichten produziert (Lexikon der Psychologie). Doch nicht nur auf zwischenmenschlicher Ebene kann Lügen eine große Problematik darstellen. „Identitätsdiebstahl“ nimmt seit über einem Jahrzehnt weltweit stetig zu und bedeutet beispielsweise für die USA einen jährlichen finanziellen Schaden in Milliardenhöhe (vgl. Wang et al. 2006: 30). Gemeint sind hiermit Vergehen, für welche sich eine Person Daten wie Namen, private Nummern oder auch Konten anderer Menschen zu eigen macht und damit beispielsweise illegalerweise Dokumente ausstellt. Doch auch die Flucht vor dem eigenen Leben, hinein in eine neue Identität, womöglich in ein anderes Land, erscheint häufig als einziger Ausweg aus der persönlichen Misere.

Fazit

Obwohl Unehrlichkeit gesamtgesellschaftlich eher negativ bewertet ist und intuitiv zunächst als „schlecht“ oder „falsch“ assoziiert wird, sind Lügen ein fester Bestandteil unseres alltäglichen Miteinanders. Die Grundlagen für das Verständnis von Unwahrheiten und die Fähigkeit zur willentlichen Täuschung entwickeln sich dabei bereits in der frühen Kindheit. Bei der Diskussion über Lügen sollten Ursprünge und Formen differenziert werden. Handelt es sich um alltägliche Unwahrheiten, einen Akt der Höflichkeit oder pathologischen Betrug im Sinne einer Persönlichkeitsstörung? Letztlich scheinen die meisten von uns in der Lage zu sein, eigene Entscheidungen bezüglich der Grenzen unserer Ehrlichkeit zu treffen und danach im besten Interesse für die Mitmenschen zu entscheiden. Zukünftige Forschung wird sich noch stärker mit den Auswirkungen von Lügen auf unsere Psyche auseinandersetzen und möglicherweise Ansätze erarbeiten, ob ein ehrlicherer zwischenmenschlicher Umgang wünschenswert und erreichbar wäre.


Quellen

Karim, A.; Fallgatter, A. (2012): Die Wahrheit über das Lügen: Neurophysiologische Korrelate und psychopathische Persönlichkeitszüge. In: Müller, J.; Rösler, M.; Briken, P. (Hg.): Empirische Forschung in der forensischen Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. S. 3–12.

Kümmerling-Meibauer, B.; Meibauer, J. (2011): Lügenerwerb und Geschichten vom Lügen. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. 41. Jg. 2011/02. S. 114–1344.

Lexikon der Psychologie (Hg.) (2017): Krankhaftes Lügen. Online verfügbar unter: https://www.psychomeda.de/lexikon/krankhaftes-luegen.html [Zugriff: 03.06.2019].

Masip, J.; Garrido, E.; Herrero, C. (2004): Defining Deception. In: Anales de psicologia. 20. Jg. 2004/01. S. 147–171.

Rogers, C.R. (1981): Der neue Mensch. Stuttgart: Klett-Coda.

Schmid, J. (2000): Lügen im Alltag – Zustandekommen und Bewertung kommunikativer Täuschungen, Zugl: Heidelberg, Univ., Habil.-Schr., 1996, Lit, Münster, Hamburg.

Serota, K.B.; Levine, T.R.; Boster, F.J. (2010): The Prevalence of Lying in America: Three Studies of Self-Reported Lies. In: Human Communication Research. 36. Jg. 2010/01. S. 2–25.

Sun, S.-Y.; Mai, X.; Liu, C.; Liu, J.-Y.; Luo, Y.J. (2011): The processes leading to deception: ERP spatiotemporal principal component analysis and source analysis. In: Social Neuroscience. 6. Jg. 2011/04. S. 348–359.

Walczyk, J.J., Roper, K.S., Seemann, E.; Humphrey, A.M. (2003): Cognitive mechanisms underlying lying to questions: response time as a cue to deception. In: Applied Cognitive Psychology. 17. Jg. 2003/07. S. 755–774.

Wang, W.; Yuan, Y.; Archer, N. (2006): A contextual framework for combating identity theft. In: IEEE Security & Privacy Magazine. 4. Jg. 2006/02. S. 30–38.

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