Identität und Technik – Küstenschutz als Sinnbild des Wir-Gefühls auf den nordfriesischen Halligen

Für ein Leben, welches derart vom Meer und dem Wechsel der Gezeiten geprägt ist, wie jenes auf den nordfriesischen Halligen, spielt der Küstenschutz eine besondere Rolle. Die vorwiegend technischen Maßnahmen dienen nicht nur dem Schutz von Küste und Natur, sondern auch der Sicherheit der Bewohner_innen. Aufgrund dieses hohen Stellenwertes von Küstenschutzmaßnahmen kann davon ausgegangen werden, dass die entsprechende Technik nicht nur als Mittel zum Zweck dient, sondern auch die kollektive Identität der Halligbewohner_innen nachhaltig geprägt hat. Im Folgenden soll daher versucht werden, das Verhältnis von Küstenschutz und Identität näher zu bestimmen.

Die Halligen im nordfriesischen Wattenmeer sind ein weltweit einzigartiger, aber auch extremer Lebensraum: Bis zu zwanzig Mal innerhalb eines Jahres, vor allem im März und November, werden die Halligen von der Nordsee überspült. Lediglich die Häuser der Bewohner_innen liegen in diesem Zeitraum noch oberhalb der Wasseroberfläche. Zum Schutz vor einem solchen Landunter sind diese nämlich auf Erdhügeln, den sogenannten Warften, erbaut. Neben den regelmäßigen Landuntern stellen auch Sturmfluten eine ernstzunehmende Gefahr für die Bewohner_innen dar, bei denen der Wasserpegel mindestens 3,50m über Normalnull (NN) steigt. Allein zu Beginn des Jahres 2017 kam es zu einer ganzen Serie von Sturmfluten vor der schleswig-holsteinischen Küste und im Januar 2019 sorgte Sturmtief Benjamin bereits für die erste Sturmflut des Jahres. Doch nicht nur Sturmfluten und Landunter bergen Risiken für das Leben der Menschen auf den Halligen, auch die ärztliche Versorgung ist dort nicht immer gewährleistet. Ebenso stellt der Zugang zum Festland eine Herausforderung dar: Einkäufe, medizinische Untersuchungen und andere Termine müssen frühzeitig geplant werden und selbst dann können die Umweltbedingungen diese Pläne wieder zunichtemachen.

Aktuell leben 270 Menschen auf sechs der zehn Halligen (Stand 2017; Biosphäre die Halligen 2017a). Nun stellt sich die Frage, weshalb sich, trotz dieser Extremität und der immanenten Risiken, Menschen bewusst dafür entscheiden, an diesem Ort zu leben. Eine mögliche Erklärung könnte die Idee der kulturellen Identität nach Thomas (1992) bieten. Kulturelle Identität meint

„nicht so etwas wie eine allgemein verbreitete generelle Norm von Lebensstilen, Werten und Verhaltensweisen, [sondern vielmehr] die subjektiven Gefühle und Bewertungen der Menschen in einer Gesellschaft, die über gemeinsame Erfahrungen verfügen und gemeinsame kulturelle Merkmale besitzen“ (ebd.: 67).

Thomas beschreibt drei Sphären, welche die Basis für diese kollektiven Empfindungen darstellen: das „Gefühl für Kontinuität hinsichtlich der Erfahrungen, die aufeinanderfolgende Generationen einer Gesellschaft gemacht haben“ (ebd.), gemeinsame Erinnerungen und das Gefühl von Zusammengehörigkeit. Unter die erste Sphäre fallen unter anderem lokalhistorische Ereignisse und Gebräuche sowie das gemeinsame Überstehen schlechter Zeiten. Gemeinsame Erinnerungen sind all jene Erinnerungen, welche eine Gruppe von Menschen verbinden, wobei hier konkrete Erfahrungen, wie Kriege oder Naturkatastrophen, gemeint sind. Auch solche Personen, die für die Geschichte des Ortes und das dortige Leben eine besondere Bedeutung haben, gehören dazu. Für die dritte Sphäre, das Zusammengehörigkeitsgefühl, wählt Thomas den Ausdruck „Schicksalsgemeinschaft“ (ebd.).

Tief verwurzelt im kollektiven Gedächtnis der Halligbewohner_innen sind die schweren Sturmfluten von 1962 und 1976, die zusammen mehr als 420 Todesopfer rund um die norddeutsche Küste forderten und Schäden in Millionenhöhe verursachten. Einige der heutigen Halligbewohner_innen haben die Flut selbst miterlebt. Aus den Interviews mit den Bewohner_innen, welche im Rahmen des Projektes „ZukunftHallig“ geführt wurden, wird deutlich, dass die Erinnerung an entsprechende Naturereignisse die Menschen dort nicht nur über Generationen hinweg verbindet. Es gibt ihnen außerdem ein Gefühl der Sicherheit: Sie wissen, dass sie gemeinsam auch harte Zeiten überstehen können. Als Gemeinschaft zeichne sie deshalb aus, so eine der befragten Personen, dass „Halligbewohner […] keine Angst vor dem Wasser haben“ (L–26: 980). Für gewöhnliche Landunter gelte deshalb auch: „Wir haben uns daran gewöhnt“ (L–28: 72). Hier werden gleich alle drei von Thomas (1992) beschriebenen Sphären deutlich: die Erinnerungen einiger Bewohner_innen an die vergangenen Naturkatastrophen münden in einem geteilten Bewusstsein für die gemeinsame Bewältigung schwieriger Zeiten und die Abgrenzung von anderen über die fehlende Angst vor dem Meer erzeugt ein Gemeinschaftsgefühl.

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Im Rahmen eines dreimonatigen Praktikums (RWTH-UROP) konnte an dem Projekt als Praktikantin mitgewirkt werden. Das Vorhaben „ZukunftHallig“ wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) über das Kuratorium für das Küsteningenieurwesen (KFKI) gefördert (Laufzeit: 01.12.2011–30.11.2013). Das Praktikum fand im soziologischen Teilprojekt am Lehrstuhl von Technik- und Organisationssoziologie der RWTH Aachen University, unter Federführung von Prof. Dr. Roger Häußling sowie Nenja Ziesen, statt. Den oben genannten Förderern, BMBF und KFKI sowie den betreuenden Personen am Lehrstuhl gilt besonderer Dank!

[/su_box] Damit kommende Sturmfluten und Landunter möglichst wenig Schaden anrichten und ein Leben auf den Halligen auch in Zukunft noch möglich ist, werden, wie bereits angedeutet, durch das Land Schleswig-Holstein und die Bewohner_innen der Halligen Schutzmaßnahmen ergriffen. Um den Folgen des Klimawandels, wie steigendem Meeresspiegel und ansteigender Gefahr von Sturmfluten entgegenzuwirken, werden beispielsweise die Warften erhöht (vgl. Biosphäre die Halligen 2017b). Eine traditionelle Küstenschutzmaßnahme auf den Halligen sind Lahnungsfelder. Hierbei handelt es sich um „künstlich angelegte, quadratische bis rechteckige Abgrenzungen mit Feldern unterschiedlicher Größe [zur] Beruhigung des einströmenden Flutwassers und [der] Förderung des Absetzens der Sedimente“ (Spektrum 2019). Zum Schutz vor Erosion dienen Deckwerke und Buhnen (vgl. Bosecke 2005: 65), welche die geböschten Ufer befestigen und als Wellenbrecher dienen, während der sogenannte Igel die Halligkanten sichert (vgl. Biosphäre die Halligen 2017b). Daneben gibt es noch weitere Maßnahmen wie die Verwendung von Sandsäcken, Schotten und Schleusen sowie die  Bauweise der Hallighäuser. Eine recht neue Küstenschutzmaßnahme ist Elastocoast. Dabei werden mithilfe von Polyurethan kleinste Schotterkörner miteinander verbunden, um so die Küste zu schützen. Sie dienen als Ersatz für traditionelle Deckwerke (vgl. BASF Polyurethanes GmbH 2014).

In den Interviews betonen die befragten Bewohner_innen die Relevanz und persönliche Wertschätzung der vorgestellten, traditionellen Küstenschutzmaßnahmen (vgl. Jensen et al. 2014: 298). Sie zeigen damit an, wie essentiell diese als Teil ihrer Kultur wie auch ihrer kulturellen Identität sind. Ebenso lässt sich vermuten, dass sich über die Jahre und die Erfahrungen ein Habitus (vgl. Bourdieu 1987) im Umgang mit dem Küstenschutz entwickelt hat, der sich nicht mit den potentiell neuen Küstenschutzmaßnahmen vereinbaren zu lassen scheint. Dies zeigt sich vor allem an der Ablehnung der Verwendung von Elastocoast (vgl. Jensen et al. 2014: 298, 345ff.), welches mittlerweile auf den Halligen nicht mehr verwendet wird. Mobile Schläuche und Wände als zukünftige Alternativen für den Küstenschutz werden ebenfalls von den Halligbewohner_innen abgelehnt, z.B. mit den Worten: „für eine Hallig untypisc[h]“ (H-5: 64). Auch andere der Befragten lehnen beinah rigoros ab, was ihr Bild vom Lebensraum Hallig verändern würde: „Aber die Hallig […] soll halligtypisch bleiben“ (H–8: 21). Deutlich wird an Zitaten wie diesen aber auch, wie wichtig den Bewohnern das äußere Erscheinungsbild der Hallig ist. Obwohl Küstenschutz ein wichtiges bis, im Falle einer schweren Sturmflut, existentielles Thema ist, werden (alternative) Maßnahmen nicht nur nach ihrer Funktionalität oder Sinnhaftigkeit bewertet, sondern immer auch nach ihrer Auswirkung auf das Erscheinungsbild der Hallig. Dies lässt vermuten, dass es sich beim Halligbild um einen Identitätsbestandteil für ihre Bewohner_innen handelt.

Bereits dieser knappe Überblick über das Verhältnis der Halligbewohner_innen zu den dort praktizierten Küstenschutzmaßnahmen zeigt, wie stark Technik und Identität miteinander verwoben sein können. Wenn technische Maßnahmen zum gelebten Habitus und geteiltem Weltbild werden, kann Technik zum Teil der kulturellen und damit kollektiven Identität werden. Die Besonderheiten des Lebensraums Hallig scheinen eine starke kollektive Identität zu erfordern. Gleichzeitig führt diese Identität dazu, dass Menschen sich trotz Risiken und extremer Lebensbedingungen zu einem Leben auf der Hallig entscheiden.


Quellen

BASF Polyurethanes GmbH (2014): Elastocoast – Ein innovatives Verfahren im Küstenschutz. Online verfügbar unter: http://www.polyurethanes.basf.de/pu/Kuestenschutz [Zugriff: 30.08.2017].

Biosphäre Die Halligen (2017a): Die Halligwelt entdecken. Online verfügbar unter: http://halligen.de/ [Zugriff: 02.05.2019].

Biosphäre die Halligen (2017b): Küstenschutz. Online verfügbar unter: https://halligen.de/halligleben/halligleben-heute/kuestenschutz [Zugriff: 23.08.2017].

Bosecke, T. (2005): Vorsorgender Küstenschutz und Integriertes Küstenzonenmanagement (IKZM) an der deutschen Ostseeküste: Strategien, Vorgaben und Defizite aus Sicht des Raumordnungsrechts, des Naturschutz- und europäischen Habitatschutzrechts sowie des Rechts der Wasserwirtschaft. Berlin/Heidelberg: Springer-Verlag.

Bourdieu, P. (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Jensen, J.; Arns, A.; Schüttrumpf, H.; Wöffler, T.; Häußling, R.; Ziesen, N.; Jensen, F.; von Eynatten, H.; Schindler, M.; Karius, V. (2014): KFKI-Projekt ZukunftHallig. Entwicklung von nachhaltigen Küstenschutz- und Bewirtschaftungsstrategien für die Halligen unter Berücksichtigung des Klimawandels (ZukunftHallig). Abschlussbericht. Siegen: Forschungsinstitut Wasser und Umwelt Universität Siegen, Institut für Soziologie RWTH Aachen University, Lehrstuhl und Institut für Wasserbau und Wasserwirtschaft RWTH Aachen University, Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz Schleswig-Holstein und Geowissenschaftliches Zentrum Göttingen.

H–5 (2012/2013): Interview mit Bewohner_in Hallig Hooge. Erhebung im Rahmen des KFKI-Projekts ZukunftHallig. Entwicklung von nachhaltigen Küstenschutz- und Bewirtschaftungsstrategien für die Halligen unter Berücksichtigung des Klimawandels (Laufzeit: 01.12.2011–30.11.2013).

H–8 (2012/2013): Interview mit Bewohner_in Hallig Hooge. Erhebung im Rahmen des KFKI-Projekts ZukunftHallig. Entwicklung von nachhaltigen Küstenschutz- und Bewirtschaftungsstrategien für die Halligen unter Berücksichtigung des Klimawandels (Laufzeit: 01.12.2011–30.11.2013).

L–6 (2012/2013): Interview mit Bewohner_in Hallig Langeneß. Erhebung im Rahmen des KFKI-Projekts ZukunftHallig. Entwicklung von nachhaltigen Küstenschutz- und Bewirtschaftungsstrategien für die Halligen unter Berücksichtigung des Klimawandels (Laufzeit: 01.12.2011–30.11.2013).

L–28 (2012/2013): Interview mit Bewohner_in Hallig Langeneß. Erhebung im Rahmen des KFKI-Projekts ZukunftHallig. Entwicklung von nachhaltigen Küstenschutz- und Bewirtschaftungsstrategien für die Halligen unter Berücksichtigung des Klimawandels (Laufzeit: 01.12.2011–30.11.2013).

Spektrum (2019): Lexikon der Geographie. Lahnung. Online verfügbar unter: http://www.spektrum.de/lexikon/geographie/lahnung/4526 [Zugriff: 03.05.2019].

Thomas, A. (1992): Grundriß der Sozialpsychologie. Band 2: Individuum – Gruppe – Gesellschaft. Göttingen: Hogrefe Verlag für Psychologie.

Literaturempfehlung

Kahlke, J. (2012): Die Große Sturmflut von 1962. Eine Hallig-Familie kämpft um ihr Leben. In: Nordfriesland Tageblatt vom 07.02.2012. Online verfügbar unter: https://www.shz.de/lokales/nordfriesland-tageblatt/eine-hallig-familie-kaempft-um-ihr-leben-id114157.html

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