Identität und Sprache: Ein Interview mit Prof. Dr. Thomas Niehr

Prof. Dr. Thomas Niehr lehrt Germanistische Sprachwissenschaft am Institut für Sprach- und Kommunikationswissenschaft der RWTH Aachen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Politolinguistik, der Diskursanalyse und der Sprachkritik. Seit 2011 ist er Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Sprache in der Politik.

 

philou.: Welche Beziehung gibt es Ihrer Meinung nach zwischen Sprache und Identität?

Das ist keine einfache Frage. Aber Sprache ist sicherlich ein wesentlicher Bestandteil oder Baustein der persönlichen Identität und auch – wenn es so etwas gibt – der Identität eines Volkes.

 

philou.: Inwiefern kann Sprache die nationale Identität eines Volkes bestimmen?  Wie wichtig ist Sprache für ein Volk?

 Ich glaube schon, dass Sprache zentral ist, weil es eben diesen engen Zusammenhang zwischen Sprache und Denken gibt. Sprache ist etwas Kognitives oder Geistiges und damit etwas anderes als z.B. Essen. Ich weiß nicht, ob ich mich jetzt zu weit hervorwage, aber ich denke, dass es leichter ist, auf die heimische Küche zu verzichten, als auf die Muttersprache. Also, da sieht man, dass Sprache schon noch eine größere Bedeutung hat als andere Dinge, die natürlich auch mit einer Kultur oder Identität verbunden sind.

 

philou.: In unserer globalisierten Welt bevorzugen wir immer mehr Mehrheitssprachen, wie z.B. Englisch. Dadurch ist fast die Hälfte der existierenden Sprachen vom Aussterben bedroht. Folglich gehen natürlich auch Volksgemeinschaften verloren, was man auch als Identitätsverlust bezeichnen könnte. Gibt es Ihrer Meinung nach einen Weg, um diesen Sprachenverlust zu stoppen?

 Ich weiß es nicht, ich kann das nicht beantworten. Man kann sicherlich – das wäre dann eine kulturpolitische Angelegenheit – versuchen, zu unterstützen, dass möglichst viele Sprachen erhalten bleiben. Beispielsweise indem man in Brüssel die Sprachen der EU-Länder gleichberechtigt behandelt. Das wäre sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Aber wenn Sie jetzt an irgendwelche Sprachen denken – und ich meine das gar nicht abwertend, sondern rein quantitativ –, die von einem kleinen Bergvolk gesprochen werden, das vielleicht noch 8000 Sprecher hat, da weiß ich nicht, welche Wege es geben kann, diese Sprache wirklich zu retten. Was man natürlich tun kann, ist Aufzeichnungen zu machen, um noch etwas von derartigen Sprachen zu konservieren. Aber dass sie dann wirklich auch noch aktiv gesprochen werden, da weiß ich nicht, welche Maßnahmen man dazu ergreifen müsste. Und ich befürchte auch, selbst wenn man hierfür das Patentrezept hätte, dass es für solche Maßnahmen kein Geld geben würde. Ich sehe also nicht, dass wir das hinbekommen könnten.

 

philou.: Angelehnt an die Theorien von Wilhelm von Humboldt – finden Sie, dass Sprache verschiedene Weltansichten bestimmt oder Sprachen verschiedene Weltansichten sind?

Ich glaube sehr wohl, dass Sprache verschiedene Weltansichten bildet. Humboldt sagte „Sprache ist das bildende Organ des Gedankens“, und es scheint mir offensichtlich, dass wir nicht sprachunabhängig denken können. Wie es ein Kollege einmal so schön ausgedrückt hat: „Beim Denken redet die Sprache immer ein Wörtchen mit“. Das trifft es, glaube ich, ganz gut, und insofern würde ich Humboldt zustimmen. Außerdem ist Humboldts Gedanke auch für die Idee einer sprachlichen Identität ganz wichtig.

 

philou.: Würden Sie also sagen, dass Sie der Sapir-Whorf-Hypothese zustimmen?

Jein. Ich stimme eher Humboldt als Sapir und Whorf zu, denn die ursprüngliche Sapir-Whorf-Hypothese, in ihrer Urform, die vertritt heute, glaube ich, niemand mehr. Es gibt einfach zu viele empirische Belege, die das in Frage stellen. Aber ich denke schon, und das kann jeder bestätigen, der mehrere Sprachen spricht, dass je nach dem, in welcher Sprache Sie sich bewegen, unterschiedliche Weltansichten oder Weltsichten stärker zu Tage treten als andere.

philou.: Es gibt „grundlegende“ Identitätszüge (Persönlichkeitszüge), die trotz der verschiedenen Sprachen vorhanden sind. Im Deutschen kann meine Äußerung beispielsweise rassistisch sein, im Spanischen hingegen nicht.

Ja, dem würde ich zustimmen. Ich würde das auch auf einer abstrakteren Ebene sehen. Beispielsweise werden allein durch den Wortschatz teilweise andere Perspektiven eingenommen. Es gibt so eine naive Vorstellung bei Laien: Es gibt die Dinge in der Welt, und wir müssen ihnen nur einen Namen geben. Sozusagen, ein Label draufkleben. Und damit räumt die Humboldt-These auf. Weil ich durch Sprache erst Welt konstituiere. Das ist der eigentlich spannende Gedanke, der auch schon bei Humboldt in Grundzügen zu erkennen ist. Außerdem sind sich Sprachwissenschaftler_innen darin einig, dass die kontextfreie Betrachtung von Wörtern zu wenig aussagekräftigen Ergebnissen führt.

philou.: Jahrelang wurde Mehrsprachigkeit als Belastung und teilweise als Bedrohung für die Entwicklung eines Menschen gesehen. Heutzutage wird durch die Globalisierung unter anderem Mehrsprachigkeit eher als Chance betrachtet.

Würden Sie sagen, dass ich auf eine Weise meine Identität verliere oder zumindest einen Verschleiß meiner Identität erlebe, wenn ich Fremdsprachen lerne?

Ich glaube, da muss man ziemlich streng unterscheiden. Ich denke, dass jede Fremdsprache sozusagen ein Gewinn ist, jede Fremdsprache, die ich lerne. Davon muss man aber streng unterscheiden, ob ich das freiwillig tue oder ob ich dazu gezwungen werde. Das kennen wir von Kolonisierungsbewegungen, wenn Gebiete, Völker oder Länder erobert werden. Will man dann den Leuten auch noch ihre Identität nehmen, dann verbietet man ihnen, ihre (Mutter-)Sprache zu sprechen. Und das ist natürlich etwas ganz anderes, als freiwillig eine neue Sprache zu lernen, um den eigenen Horizont zu erweitern. Das muss man klar trennen. Und ich halte es für ein Verbrechen, jemandem zu verbieten, seine Sprache – seine Muttersprache – zu sprechen.

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