„Ich weiß, dass ich nichts weiß“…

 

 

…lautet der schon oft zitierte Satz des Sokrates. Laut Cicero lässt er sich zurückführen auf seine Verteidigungsrede, seiner Apologie, vor dem athenischen Volksgericht, das ihn wegen Gottlosigkeit und verderblichem Einfluss auf die Jugend anklagte, ihn letztendlich für schuldig befand und zum Tode verurteilte.

Noch bis heute ruft die Paradoxie in diesem Satz Kopfkratzen bei manch einem hervor, der ihn zu hören bekommt. Denn wenn ich weiß, dass ich nichts weiß, weiß ich doch sehr wohl etwas: Ich verfüge über das Wissen meines Nichtwissens.

Dieser Widerspruch geht darauf zurück, dass es sich um eine freie Übersetzung handelt. Vielmehr ließe sich die altgriechische Formulierung „οἶδα οὐκ εἰδώς“ als „Ich weiß als Nichtwissender“ oder auch „Ich weiß, dass ich nicht weiß“ übersetzen. Auf diese Weise beteuert Sokrates also nicht, dass er nichts wisse, sondern er hinterfragt das, was jemand zu wissen meint.

Das Wissen über eben dieses Nichtwissen ist deswegen entscheidend, weil es nach Sokrates‘ Sicht die Grenzen des Wissens kenntlich macht. Das, was wir für wahr halten, kann jederzeit revidiert werden. Deshalb rät er uns, alles in Frage zu stellen. Denn indem wir Fragen stellen, geben wir unser eigenes Nichtwissen der Antwort auf die Frage zu. Laut Sokrates ist es eben das Wissen vom Nichtwissen, das das Erstreben von mehr Wissen anregt. Letztendlich ist eben dieser Satz das Fundament seiner beider Methoden: Der Elenktik und der Maieutik, bei denen er seinem Gegenüber im Dialog durch das Hinterfragen zum Wissen heranführt.

Sokrates‘ Paradox zeigt auf, dass die Auseinandersetzung mit Wissen und Nichtwissen noch heute ‑ mehr als 2000 Jahre später ‑ aktuell ist. Heute ist der Begriff der Wissensgesellschaft in aller Munde. Neben der „Informationsgesellschaft“ ist dieser eine der populärsten Gesellschaftsdiagnosen der heutigen Zeit. In modernen wissensbasierten Gesellschaften, wie der unseren, haben wir es mit einem massiven Zuwachs an kollektiven Wissensbeständen zu tun. Hierbei ist der Anstieg der Zuwachsraten dynamisch, denn das erworbene Wissen vergrößert sich in immer kürzeren Abständen. Zudem ermöglicht die Bereitstellung von Inhalten über das Internet ein historisch noch nie da gewesenes Maß, sich Wissen anzueignen und am wachsenden Wissenskollektiv teilzuhaben. In der Wissensgesellschaft sind es nicht wie zuvor Arbeit, Boden und Rohstoffe, die als Produktionsfaktoren gelten, sondern Wissen und seine Verwertung.

Begleitet wird die Entwicklung zur Wissensgesellschaft von einem wirtschaftlichen Strukturwandel beispielsweise durch eine intensivere Arbeitsteilung. So wird Wissen heute als grundlegendes Kapital betrachtet, das die gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse prägt und somit als Motor der Gesellschaft dient.

Allerdings geht mit der Wissensproduktion eine Steigerung des Ausmaßes an Nichtwissen einher. Das bewusste Nichtwissen steigt mit jedem Schritt des Wissenszuwachses.

Eine Beschäftigung mit diesem Thema offenbart, wie groß die Unklarheiten über das Nichtwissen sind. Es stellt sich die Frage: Gibt es so etwas wie Nichtwissen überhaupt? Wenn wir uns doch bewusst darüber sind, etwas nicht zu wissen, haben wir es dann nicht vielleicht eher mit einem Nochnichtwissen zu tun? Theoretisch wäre es möglich, sich das, was man noch nicht weiß, kurzerhand anzueignen. Wäre dann ein grobes Wissen über eine Thematik oder ein falsches Verständnis davon ein Nichtrichtigwissen oder Nichtsoganzwissen? Wie verhält es sich mit Irrtümern und Unwissenheiten, die doch auch aus der Abwesenheit von Wissen entstehen?

Es wäre überheblich und ignorant zu behaupten, man würde alles wissen, doch schließt das Wissen darüber, dass man etwas zwar beim Namen kennt, sich aber über den Sachverhalt nicht genau auskennt, Nichtwissen als Phänomen aus? In der Literatur gehen die Meinungen dazu auseinander. Aus Sicht der Soziologie produziert die Wissensgesellschaft insbesondere Nichtwissen, da aus jeder Antwort eine neue Frage entsteht und deswegen neues Nichtwissen aus jeder Wissensproduktion hervorgeht. Während im Allgemeinen zwischen den zwei Polarisierungen Wissen und Nichtwissen differenziert wird, geht der Soziologe Peter Wehling auf weitere Unterscheidungsdimensionen ein, die sich graduell zwischen den zwei extremen Polen, dem Wissen und Nichtwissen, ergeben.

Im Gegensatz zu Soziologen wie Michael Smithson, der die Ansicht vertritt, dass die oft mit Nichtwissen assoziierten Begriffen: Irrtum, Unwissenheit oder Risiko Formen des Nichtwissens sind, argumentiert Wehling, dass sie nicht als Synonyme dessen verwendet werden können. Irrtümer, beispielsweise, können nach Wehling als eine Form des Wissens angesehen werden. Unwissenheit stellt eine unsichere Art des Wissens dar; schließlich: damit ein Risiko als solches überhaupt erkannt werden kann, muss ein bestimmtes Vorwissen vorausgehen.

Inspiriert durch diese Schlussfolgerung, unterscheidet Wehling in seinem Buch Im Schatten des Wissens? Perspektiven der Soziologie des Nichtwissens drei verschiedene Formen von Nichtwissen: Wissen des Nichtwissens, Intentionalität des Nichtwissens und die zeitliche Stabilität von Nichtwissen.

Die erste dieser Unterscheidungsdimensionen nimmt Bezug auf die Art und das Maß des Nichtwissens. Beispielsweise lässt sich unterscheiden, ob es sich um eigenes oder fremdes Nichtwissen handelt und inwiefern es bewusstes also bereits wahrgenommenes Nichtwissen oder doch eher unbewusstes, nicht wahrgenommenes Wissen ist. Unter letzterem lassen sich beispielsweise menschliche Vermutungen oder Ungewissheiten einordnen.

Wehlings zweite Unterscheidungsdimension zur Intentionalität des Nichtwissens geht der Möglichkeit eines gezielten Erzeugens bzw. der Beibehaltung von Nichtwissen nach. Ob beispielsweise ein Kollektiv oder individuelle Personen mit Absicht Nichtwissen schaffen oder aufrechterhalten wollen oder dies unbeabsichtigt geschieht. Darin lässt sich die Verdrängung von traumatischen Ereignissen, die als psychischer Schutzmechanismus agiert und belastende Erinnerungen in das Unterbewusstsein verschiebt, verstehen. Generell lässt sich durch diese Dimension untersuchen, inwiefern dem Akteur bewusst bzw. unbewusst war, welche Folgen sein Handeln hatte.

Wehling hebt seine dritte Unterscheidungsdimension, die zeitliche Stabilität von Nichtwissen, besonders hervor, bei der es um die zeitliche Dauer und Stabilität von Nichtwissen geht und darum, ob es überhaupt möglich ist, Nichtwissen in Wissen zu verwandeln. In dieser Dimension differenziert er zwischen dem zeitlich begrenzten Noch-Nicht-Wissen und dem unüberwindbaren Nicht-Wissen-Können. Das Noch-Nicht-Wissen umfasst schlichtes bereits bekanntes Nichtwissen, das durch eine Auseinandersetzung mit der Thematik zu Wissen umgewandelt werden kann, während das Nicht-Wissen-Können nach Wehlings Definition entweder spät oder überhaupt nicht zu Wissen umgewandelt werden kann.

Wehlings Auseinandersetzung mit dem Phänomen macht die Komplexität von Nichtwissen erst deutlich und zeigt auf, wie viele unterschiedliche Formen Nichtwissen einnehmen kann. Zu beachten ist, dass Wehlings verschiedene Dimensionen erst nachträglich zur Rate gezogen werden können, um zu erfassen, woran das Nichtwissen in vorhergegangenen Situationen lag: Ob es wahrgenommenes Nichtwissen oder nicht wahrgenommenes Wissen war, ob es absichtliches oder unabsichtliches Erzeugen bzw. Schaffen von Nichtwissen war und ob es sich entweder um ein Noch-Nicht-Wissen oder Nicht-Wissen-Können gehandelt hat.

Dies führt zu der Erkenntnis, dass unsere sogenannte Wissensgesellschaft viel stärker mit Nichtwissen konfrontiert ist, als vielleicht anfangs gedacht. Durch Fortschritt verschwindet Nichtwissen nicht einfach, vielmehr gewinnt es dadurch noch mehr an Bedeutung. Für uns lässt sich dadurch festhalten, dass Nichtwissen nicht zwangsläufig als ein Defizit betrachtet werden sollte, das es zu beseitigen gilt. Selbst die bestinformierten Experten verfügen über das Wissen, das ihr Fachgebiet umfasst und mögen in anderen Gebieten nur Laien sein.

Sokrates‘ Worte „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ haben daher ‑ bis heute ‑ nicht an Bedeutung verloren. Schließlich ist unser Wissensdurst über Dinge und Sachverhalte, die uns unbekannt sind, der Stachel, der uns zum Erwerb von neuem Wissen antreibt.

 

Literaturempfehlungen:

Smithson, M. (1989): Ignorance and Uncertainty. Emerging Paradigms. New York, Berlin, Heidelberg: Springer Verlag.

Wehling, P. (2004): Weshalb weiß die Wissenschaft nicht, was sie nicht weiß? Umriss einer Soziologie des wissenschaftlichen Nichtwissens. S. 35-105. In: Böschen, S./ Wehling, P. (Hrsg.): Wissenschaft zwischen Folgeverantwortung und Nichtwissen. Aktuelle Perspektiven der Wissenschaftsforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Wehling, P. (2006): Im Schatten des Wissens? Perspektiven der Soziologie des Nichtwissens. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft. .

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