Geteiltes Leid, geteilte Verantwortung

Hans Jonas (1987) beschreibt Verantwortung als eine Funktion von Macht:

„Ein Machtloser hat keine Verantwortung. Man hat Verantwortung für das, was man anrichtet. Wer nichts anrichten kann, braucht auch nichts zu verantworten; […] derjenige, der nur sehr geringen Einfluß auf die Welt hat, ist in der glücklichen Lage, ein gutes Gewissen haben zu können.“ (ebd.: 272f.)

Auf die Frage „Was hast du da angerichtet?“ folgt somit die Antwort „Kaum etwas – denn wer bin ich?“ (ebd.: 272). Dieser Logik wird heute häufig gefolgt, denn die Auswirkungen der Handlungen des Einzelnen erscheinen in der Gesamtbetrachtung nahezu null. Gleichzeitig werden zunehmend Diskurse über die Verantwortung der einzelnen Konsumenten geführt – ausgehend von der Annahme, dass insbesondere nicht-nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster für globale Umweltprobleme und gesellschaftliche Herausforderungen maßgebend seien (vgl. WCED 1987; SRU 1994).

Bereits im Brundtland-Bericht (1987) „Our Common Future“ findet sich die Feststellung wieder, dass die Menschen mit ihrem Verhalten und ihren Handlungen Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung tragen. In dem Bericht werden primär zwei Handlungsebenen formuliert, um den Krisen der Moderne zu begegnen: Zum einen die intergenerationelle Perspektive, die die Verantwortung für zukünftige Generationen beschreibt und zum anderen die intragenerationelle Perspektive, das heißt die Verantwortung für derzeit lebende Menschen. (vgl. WCED 1987; Balaš/Strasdas 2018) Das inhärente Verständnis des Nachhaltigkeitsbegriffes geht entsprechend mit einer Verantwortungszuschreibung einher.

Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (SRU) benennt in seinem Umweltgutachten (1994) drei konkrete Verantwortungsbereiche, die im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung relevant sind: die Verantwortung des Menschen für seine natürliche Umwelt, die Verantwortung des Menschen für seine soziale Mitwelt und die Verantwortung des Menschen für sich selbst. Somit ist Verantwortung hinsichtlich einer nachhaltigen Entwicklung nicht nur umweltethisch zu begründen, sondern auch im Kontext einer sozialen Gerechtigkeit sowie der Sicherung der „personalen Freiheit“ (SRU 1994; Buschmann/Sulmowski 2018).

Das Individuum als „Agent of Change“

Wesentlicher Bestandteil der Nachhaltigkeitsdebatte ist die Frage nach potentiellen Schlüsselakteuren: Wer hat den entsprechenden Einfluss, um einen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen? Wer trägt besondere Verantwortung? Wer trägt in der Verursacherkette, beispielsweise hinsichtlich des Klimawandels oder des Ressourcenverbrauchs, maßgeblich bei? (vgl. Grunwald 2012) Der seit Jahrzehnten festgeschriebene Weg hin zu einer nachhaltigen Entwicklung ist zunehmend mit einem Appell an die individuelle Verantwortungsübernahme verbunden (vgl. Buschmann/Sulmowski 2018; Grunwald 2010; Grunwald 2012): Die Debatte konzentriert sich vor allem auf den Konsumenten, der als „schlafender Riese“ gilt und die Welt retten könnte, wenn er sich doch nur aus seinem Schlaf befreien könne (vgl. Grunwald 2012, zitiert nach Busse 2006). Damit wird dem einzelnen Konsumenten eine außerordentliche Macht zugeschrieben, was letztlich auf dem Verursacherprinzip basiert: Das Konsumverhalten von Privathaushalten erzeugt maßgeblich globale ökologische und soziale Probleme, damit sind die Konsumenten für diese Probleme verantwortlich und nach dieser Prämisse entsprechend in der moralischen Pflicht, diese auch zu lösen – dies wird als Konsumentenverantwortung bezeichnet (vgl. ebd.; Grunwald 2014).

In diesem Sinne wäre das konsumierende Individuum gleichzeitig Verantwortungssubjekt, Verantwortungsobjekt und Verantwortungsadressat, das sich vor der Verantwortungsinstanz „Planet Erde“ rechtfertigen muss (vgl. Braun/Baatz 2018).

Von Konsumenten wird erwartet, öffentliche Verkehrsmittel oder das Fahrrad zu nutzen, sparsam zu heizen und stromsparend zu leben, regionale und saisonale Lebensmittel zu kaufen sowie bei der Anschaffung von Bekleidung, Unterhaltungselektronik oder der Wohnungseinrichtung auf die Ökobilanz zu achten. Diese Erwartungshaltung spiegelt sich auch in der veränderten Werbekultur wider, in der vielfach Lösungen für private Endverbraucher angeboten werden, wie sie „etwas für die Umwelt tun könnten“. Ein ganzer Markt für Nachhaltigkeit hat sich gebildet: Von Mobilitätsalternativen zum Fliegen und Autofahren, Öko-Tourismus, Bekleidung bis hin zu Ernährungsgewohnheiten wird in der Öffentlichkeit direkt der Lebensstil des einzelnen Konsumenten angesprochen. (vgl. Grunwald 2012, 2014) Nachhaltiges und umweltschonendes Verhalten wird mittlerweile als „Muster politischer Korrektheit“ propagiert, ständige Beobachtung hinsichtlich ökologischen Handelns wird zum Alltag (Grunwald 2010). Private Unterhaltungen drehen sich darum, wessen Mittagessen die niedrigere CO2-Bilanz aufweist und wessen Urlaub eine bessere Ökobilanz hat (vgl. ebd.). Nachhaltigkeit wird somit privatisiert – das heißt die Erwartungen verschieben sich von der politischen Ebene zur privaten Ebene (vgl. ebd.). Nachhaltigkeit per se ist aber keine Privatangelegenheit: Als „Muster politischer Korrektheit“ deklariert, „verliert es auf eigentümliche Weise das Private“ (ebd.).

Der moralische Druck auf den privaten Endverbraucher wächst zunehmend und dieser bemüht sich kontinuierlich, diesen „ökologischen Tugenden“ nachzugehen (Grunwald 2014). Fraglich ist jedoch, inwieweit diese öffentliche Erwartungshaltung an das Individuum gerechtfertigt ist und ob ein verändertes Konsumverhalten des Einzelnen überhaupt zu einer gesellschaftlichen Umstrukturierung beitragen kann – das heißt, wie viel Macht der Einzelne tatsächlich hat bzw. haben kann. „Es wäre zynisch, an das private Handeln zu appellieren, wenn plausible Zweifel bestehen, dass dieses Handeln die erhofften positiven Folgen haben wird“ (Grunwald 2010). Und nicht nur das: Zynisch ist es auch, den Konsumenten durch ein breites Angebot vor die Wahl zu stellen, um ihm im Nachhinein vorzuwerfen, er habe unmoralisch gehandelt.

Geteilte Verantwortung

Ausgehend von der Prämisse des Verursacherprinzips scheint die Schlussfolgerung, dass die von den Konsumenten verursachten Schäden auch durch diese behoben werden müssen, naheliegend und logisch – sie kommt jedoch vielmehr einem Trugschluss nah (vgl. Grunwald 2014). Weiterhin bedarf es einer Differenzierung der tatsächlichen Kausalität: Treibhausgasemissionen, die beispielsweise durch das Autofahren entstehen, können nur als geteilte Verursachung eines ökologischen Schadens verstanden werden, da dieser als Summe aller kollektiven Handlungen bewirkt wird – und nicht aus einer einzelnen Handlung resultiert (vgl. Schmidt 2016).

Die Verantwortungszuschreibung basiert entsprechend nicht ausschließlich auf einem kausalen Zusammenhang, sie ist wesentlich komplexer, denn es müssen ebenso die Strukturen, Rahmenbedingungen und das vorhandene Wissen berücksichtigt werden. Eine vollständige Zuschreibung der Verantwortung an die verursachenden Akteure würde nur dann gelten, wenn diese in ihren Handlungsalternativen völlig frei wären – dies trifft aber im Falle des Konsumverhaltens nicht zu. (vgl. Grunwald 2014) Die Konsumenten bewegen sich in gesetzlichen Rahmenbedingungen.

Es steht außer Frage, dass Privatpersonen einen Teil der Verantwortung tragen. Ebenso können sie sicherlich durch nachhaltige(re)n, aber vor allem bewussten Konsum zu Veränderungsprozessen beitragen. Der andere Teil liegt aber eben in jenen Rahmenbedingungen: In demokratischen Systemen sind die Konsumenten nicht nur Konsumenten, sondern vor allem als Bürger und Bürgerinnen Gestalter der Partizipation. (vgl. ebd.) Durch transparente und demokratisch legitimierte Prozesse, die für alle verbindlich sein können, werden Rahmenbedingungen, die einen bewussten Konsum fördern, zu einem öffentlichen Diskurs und stellen entsprechend Gestaltungsräume dar, an denen alle partizipieren können. Es geht nicht darum, das Individuum von seiner Verpflichtung zur Verantwortungsübernahme zu befreien; diese Verpflichtung ist aber nicht nur auf den privaten Konsumbereich zu beziehen, sondern eben auch auf die politische Ebene des individuellen Handelns. (vgl. Grunwald 2010) Das Individuum ist sowohl Privatperson und Konsument als auch Mitglied einer Zivilgesellschaft und politischer Akteur – und der simplifizierte Ansatz des moralisierenden Verursacherprinzips ignoriert eben genau diesen zweiten Aspekt (vgl. ebd.; Grunwald 2012).

Verantwortungsübernahme für „mehr Nachhaltigkeit“ kann sowohl durch verstärktes Engagement im politischen Bereich als auch durch bewusstes Einkaufen im Supermarkt geschehen – zwei unterschiedliche Weisen, der Verantwortung gerecht zu werden (vgl. Grunwald 2018). Entsprechend wird die Konsumentenverantwortung in ihrer Erwartung und den tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten relativiert – Verantwortung für „mehr Nachhaltigkeit“ ist viel umfassender (vgl. ebd.). Im Hinblick auf eine geteilte Verantwortung ist es vor allem die Konsistenz im Handeln, die relevant ist. Wer sich im politischen Bereich aktiv für Nachhaltigkeit einsetzt, im privaten jedoch seine Überzeugungen verwirft, weist keine intrinsische Überzeugung auf – im Kantischen Sinne darf Nachhaltigkeit nicht als Mittel zum Zweck, zur Imagepflege oder Ähnlichem, missbraucht werden, es geht vielmehr um den „Guten Willen“ an sich. (vgl. Grunwald 2012)

„In summa wirken wir alle mit und sogar im bloßen Verbrauchen, sogar ohne etwas zu tun. Schon dadurch, daß wir an den Früchten dieses Systems partizipieren, sind wir alle mit kausale Kräfte in der Gestaltung der Welt und der Zukunft. […] Wir alle sind es, ohne daß es ein einzelner zu sein braucht.“ (Jonas 1987: 273)


Quellen

 Balaš, M.; Strasdas, W. (2018): Nachhaltigkeit im Tourismus: Entwicklungen, Ansätze und Begriffserklärung. Dessau-Roßlau: Umweltbundesamt.

Braun, F.; Baatz, C. (2018): Klimaverantwortung und Energiekonflikte. Eine klimaethische Betrachtung von Protesten gegen Energiewende-Projekte. In: Henkel, A. et al. (Hg.): Reflexive Responsibilisierung. Verantwortung für nachhaltige Entwicklung. Bielefeld: transcript. S. 31–48.

Buschmann, N.; Sulmowski, J. (2018): Von „Verantwortung“ zu „doing Verantwortung“. Subjektivisierungstheoretische Aspekte nachhaltigkeitsbezogener Responsibilisierung. In: Henkel, A. et al. (Hg.): Reflexive Responsibilisierung. Verantwortung für nachhaltige Entwicklung. Bielefeld: transcript. S. 281–295.

Grunwald, A. (2010): Wider die Privatisierung der Nachhaltigkeit. Warum ökologisch korrekter Konsum die Umwelt nicht retten kann. In: GAIA. 19. Jg. 2010/03. S. 178–182.

Grunwald, A. (2012): Nachhaltiger Konsum – das Problem der halbierten Verantwortung. In: Globale öffentliche Güter in interdisziplinären Perspektiven [Online]. Karlsruhe: KIT Scientific Publishing. Online verfügbar unter: http://books.openedition.org/ksp/3799 [Zugriff: 14.11.2019].

Grunwald, A. (2014): Nachhaltiger Konsum – Plädoyer gegen eine Engführung auf Konsumentenverhalten. In: HiBiFo. 2014/02. S. 15–23.

Grunwald, A. (2018): Warum Konsumentenverantwortung allein die Umwelt nicht rettet. Ein Beispiel fehllaufender Responsibilisierung. In: Henkel, A. et al. (Hg.): Reflexive Responsibilisierung. Verantwortung für nachhaltige Entwicklung. Bielefeld: transcript. S. 422–436.

Jonas, H. (1987): Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 9. Auflage 2017.

Sachverständigenrat für Umweltfragen (1994): Für eine dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung. Umweltgutachten 1994 des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen.

Schmidt, I. (2016): Konsumentenverantwortung. In: Heidbrink, L. et al. (2016): Handbuch Verantwortung. Springer Reference Sozialwissenschaften. Wiesbaden: Springer VS.

World Commission on Environment and Development (1987): Our Common Future. New York: Oxford University Press.

 

Weiterführende Literatur

Heidbrink, L.; Schmidt, I.; Ahaus, B. (2011): Die Verantwortung des Konsumenten. Über das Verhältnis von Markt, Moral und Konsum. Frankfurt am Main: Campus Verlag.

Schneidewind, U. (2018): Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.

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