Entschleierung der Verwundbarkeit

Simone Weil
Simone Weil (Illustration von Vladislav Rende)

Vor 75 Jahren, am 24. August 1943, stirbt Simone Weil (1909–1943). Als Sozialistin, Freiheitskämpferin, (unfreiwillige) Mystikerin und immerwährende Außenseiterin, arbeitet sie ein Menschenbild heraus, das in der Bedürftigkeit des verwundbaren Subjekts seinen denkerischen Angelpunkt erhält. In die Pariser Bourgeoisie hineingeboren zählt sie zu den ersten Frauen an einer Eliteuniversität in Frankreich. Unberührt von ihren Erfolgen entscheidet sich Weil gegen ihre Herkunft. Sie wählt ein Leben an der Seite der von der Gesellschaft Geächteten und Ausgegrenzten. Schlag- und Schicksalswort ihrer Lebensgeschichte wird der Hunger. Dieser wird für sie zur Sprache der bedingungslosen Solidarität und bringt ihr schließlich mit 34 Jahren den Tod. Der Öffentlichkeit bleibt sie größtenteils unbekannt, bis Albert Camus sie wiederentdeckt. (vgl. Pétrement 1997)

Paradigmatisch für Weils Konsumverständnis erweist sich ein kurzer Wortwechsel zwischen Simone de Beauvoir und Weil am Campus der Sorbonne 1930 (vgl. Beauvoir 1968: 229): Während die Existentialistin Beauvoir den zentralen Gehalt des menschlichen Lebens in der frei zu wählenden Sinngebung verortet, mahnt Weil die Verantwortung gegenüber den lebensnotwendigen Bedürfnissen aller Menschen ein. Sie warnt vor einem Freiheitsverständnis, das zum Konsum jenseits aller Bedürftigkeit einlädt: „si l’on devait entendre par liberté la simple absence de toute nécessité, ce mot serait vide de toute signification concrète ; mais il ne représenterait pas alors pour nous ce dont la privation ôte à la vie sa valeur.“ [verstünde man Freiheit als bloße Abwesenheit aller Notwendigkeit, verliere dieses Wort seine konkrete Bedeutung; es würde für uns nicht mehr die Entbehrungen repräsentieren, die uns das Leben abverlangt] (Weil 1955: 59) Nicht grundlos zeichnen geistesgeschichtliche Untersuchungen der letzten Jahre eine gedankliche Nähe zwischen der Freiheitsliebe des französischen Existentialismus und der Logik der zügellosen Finanzmärkte – exklusive der humanitären Praxis seiner Hauptvertreter_innen in den 70er Jahren (vgl. Irwin 2015: 33f.).

Weil stellt der Idee der hedonistischen Freiheit die nécessité gegenüber, die soziale Abhängigkeiten und die natürliche Bedürftigkeit jedes Menschen zum Ausdruck bringen will, wie auch die egoistischen Tendenzen dahinter entlarvt: „la nécessité est une ennemie pour l’homme tant qu’il pense, à la première personne“. [solange der Mensch in der ersten Person denkt, ist ihm die Notwendigkeit ein Feind] (Weil 1951: 124) Als weltweite Gemeinschaft der von der nécessité Betroffenen obliegt es somit jedem Menschen, das Not-wendende (Notwendige) zu tun. Die nécessité ist damit Kontingenzerfahrung und ethischer Apell zugleich.

Die menschliche Verpflichtung der Solidarität begründet Weil im Rahmen einer neuplatonischen Ontologie: Alles (für uns augenscheinlich) Seiende ist eine Spielart des Nichtseins. Im Unterschied zu Platon versteht Weil unsere Welt nicht als verringerten Abglanz einer perfekten Ideenwelt, sondern als Negativ des Seins: als Facetten des Nichts. Sie spricht deshalb im Kontrast zum biblischen Schöpfungsbegriffs von einer dé-création [Ent-schaffung] im Sinne einer Entäußerung des Seins und einer Verwirklichung des Mangels (vgl. Weil 1956: 139). Der Mensch müsse lernen, sich in der Abwesenheit des Seins als ontologisches Mangelwesen zu erkennen – anders als Gehlen, der den Begriff des Mangelwesens biologisch und soziologisch argumentierte – sozusagen als ein wandelnder Nichtseiender unter Nichtseienden. Dessen blind, versuche der Mensch die latent spürbare Leere mit vermeintlichem „Sein“ zu füllen. Weil definiert menschliche Existenz, auf individueller Ebene, aber auch auf kollektiver Ebene als Versuche den horror vacui [die Angst vor der Leere] zu verhandeln.

Konsum bildet folglich nicht eine Lebenswelt unter vielen, sondern erweist sich als den grundlegendsten und natürlichsten menschlichen Vollzug von allen. Der Mensch erlebt und fühlt seine existentielle Leere jedoch trotz der vorherrschenden ontologischen Kontrastlosigkeit: denn nichts, was ihn umgibt beinhaltet für sich genommen wahres Sein, erscheint ihm aber als vermeintliches Sein. Zu leicht wird Fußabdruck und der längst schon abwesende Fuß verwechselt. Dass sich alles, was existiert, schließlich dennoch als Nichtseiendes entpuppt, erkenne der Mensch erst in der Verwundbarkeit des Kostbaren, die Weil als Erfahrung einer zerbrechlichen Schönheit beschreibt: „la vulnérabilité des choses précieuses est belle parce que la vulnérabilité est une marque d’existence.“ [die Verwundbarkeit der kostbaren Dinge ist schön, weil die Verwundbarkeit ein Merkmal der Existenz ist] (Weil 1947: 126) In dieser Erfahrung des Fragilen erahnt der Mensch seine wahre Existenz als Nichtseiender und bekommt die Möglichkeit, sein unglückliches Streben nach vergeblicher Erfüllung zu überwinden. Hier sind wir alle als gleichsam ontologische Waisenkinder aufeinander als Verwundbare verwiesen, denn der Berührungspunkt zum wahren Sein liegt im Leiden des Gegenübers. Im Anblick des Leidens, mit anderen Worten des ontologischen Mangels des Anderen, vermögen wir im Fußabdruck den Fuß zu erkennen, ohne beide wieder zu verwechseln. Präsenz in der Absenz zu erfahren ist für Weil eine Qualität, die solipsistisch nicht möglich ist. Teilhabe am wahren Sein erhalten wir erst, indem wir aufhören, uns als homines incurvati in se ipsos [in sich selbst gekrümmte Menschen] auf unsere eigene Leere zu fokussieren und beginnen, die Andern zu erfüllen – und uns damit selbst dekreieren. Ihre soziale Verwirklichung erfährt die décréation im Equilibrium von Produktionsleistung und Konsumbedürfnis: „l‘homme est plus ou moins contraint, à chaque moment de son existence, de se tourner vers autrui pour avoir les moyens de consommer, les moyens de produire.“ [der Mensch ist mehr oder weniger gezwungen, sich in jedem Augenblick seiner Existenz an andere zu wenden, um die Fähigkeit des Konsums, die Fähigkeit der Produktion zu erlangen] (Weil 1955: 75)

Weil kritisiert dabei die marxistische Naivität der 1930er Jahre, die Konsum als mal nécessaire (Weil 1955: 39) verballhornt und zum Ausdruck des bourgeoisen Wohlbefindens reduziert: „si, du point de vue de la consommation, il n’y a que passage à un peu plus de bien-être, la production, qui est le facteur décisif, se transforme, elle, dans son essence même.“ [wenn die Betrachtungsweise des Konsums nur den Eintritt in etwas mehr Wohlstand beinhaltet, wird Produktion, die den entscheidenden Faktor darstellt, in ihrem Wesen verkehrt] (Weil 1955: 33-34) Sie schält mit Marx das originär kommunistisch-naturalistische Menschenbild heraus, das die Ursache der Unterdrückung nicht im Konsum, sondern in der Verkehrung von Konsum und einer allen Menschen dienlichen Produktion erkennt: „Carl Marx a bien montré que la véritable raison de l’exploitation des travailleurs [… est] la nécessité d’agrandir l’entreprise le plus rapidement possible afin de la rendre plus puissante que ses concurrentes.“ [so hat Marx deutlich gezeigt, dass der wahre Grund für die Ausbeutung der Arbeiter [….] die Notwendigkeit ist, das Unternehmen so schnell wie möglich zu expandieren, um es stärker als seine Konkurrenten zu machen] (Weil 1955: 11)

Für Weil ist der Welthunger der abstrakten Logik des Geldes geschuldet, die Produktion zum gefährlichen Selbstläufer und Konsum zum Wohlstandskriterium werden lässt. Dies wird möglich, weil das Medium zum Kontrollmechanismus seines Inhalts wird: „en raison de l’extension formidable des échanges, la plupart des hommes ne peuvent atteindre la plupart des choses qu’ils consomment que par l’intermédiaire de la société et contre de l’argent.“ [aufgrund der enormen Ausweitung des Handels, kann die Mehrheit der Menschen das Gros an dem, was sie konsumieren, ausschließlich über den Zwischenhändler in der Gesellschaft und im Tausch gegen Geld erlangen] (Weil 1955: 85)

Durch die Einführung des Geldhandels verliert die Dichotomie von Produktion und Konsum die Berührung mit der Wirklichkeit. Ein losgelöster Konsum entfesselt schließlich eine Produktion des endlosen Hinarbeitens auf ein Nichts. Er unterwirft das menschliche Leben der Herrschaft des Geldes, das ironischerweise als sozial konstruierter Wert den Inbegriff allen Nichtseins repräsentiert: „la chose qui met en rapport production et consommation et qui règle l’échange des produits, c’est la monnaie.“ [das, was Produktion und Konsum verkettet und den Handel von Produkten kontrolliert, ist das Geld] (Weil 1955: 84).

Die Mimetische Theorie des Kreises um den Weilrezipienten Réne Girard (vgl. Palaver 2010: 469) beschreibt wie Ressourcenknappheit jenseits der physischen Vorkommnisse durch die Finanzmärkte konstruiert wird. Mechanismen der Finanzmärkte instrumentalisieren gezielt den horror vacui des Menschen: Es geht nicht mehr darum, Wasser zu haben, sondern eine bestimmte Sorte von Wasser, die wir in der Hand eines beliebigen Vorbilds gesehen haben und mit dem Gefühl der existentiellen Erfüllung verbinden (vgl. Dumouchel/ Dupuy 1998: 176f.). Die Knappheit ergibt sich folgend aus einer imaginierten Einzigartigkeit des Konsumguts, das ein Monopol auf Erfüllung verspricht.

Simone Weil fordert einen Konsum gemäß unserer Leiblichkeit jenseits der imaginären und abstrakten Wirtschaftslogik; eine Produktion, die dem Gefühl des eigenen Hungers und nicht der Begierde nach dem Glück des Anderen antwortet. So paradox es im Angesicht ihres Hungertodes klingen mag, Weils Wirtschaftsethik ist ein Aufruf, sich selbst wieder spüren zu lernen, anstatt auf den Besitz des anderen zu schielen, wieder das Gefühl des natürlichen Hungers zuzulassen – mag er physisch, psychisch oder seelisch sein.

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Literatur

Betz, O. (2009): Schönheit spricht zu allen Herzen. Das Simone-Weil-Lesebuch. München: Kösel.

De Beauvoir, S. (1968): Memoiren einer Tochter aus gutem Hause. Hamburg: Rowohlt.

Dumouchel, P./ Dupuy, J.-P. (1998): Die Hölle der Dinge. René Girard und die Logik der Ökonomie. Wien: Lit.

Irwin, W. (2015): The Free Market Existentialist: Capitalism without Consumerism. Sussex: Willey.

Palaver, W. (2010): Die Frage des Opfers im Spannungsfeldvon West und Ost. René Girard, Simone Weil und Mahatma Gandhi über Gewalt und Gewaltfreiheit. In: Zeitschrift für Katholische Theologie. 132. Jg. 2010/1. S.462–481.

Pétrement, S. (1997): La vie de Simone Weil. Avec des lettres et d’autres textes inédits de Simone Weil Broché. Paris: Fayard.

Weil, S. (1947): La Pesanteur et la Grâce. Paris: Librairie Plon.

Weil, S. (1951): Intuitions Pré-chrétiennes. La Colombe: Éditions du Vieux Colombier.

Weil, S. (1955): Réflexions sur les causes de la liberté et de l’oppression sociale. Paris: Gallimard.

Weil, S. (1956): The notebooks of Simone Weil. London: Routledge.

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