Du bist, was du sprichst

Die Sprache existiert sowohl außerhalb als auch innerhalb unseres Verstands. Sie ist Kommunikationskanal und gleichzeitig Schlüssel zum Welt- und Selbstverständnis. Sie beeinflusst unsere Art und Weise, die Welt zu erfahren, denn es gibt keine „reinen“ Sinneserfahrungen, die nicht durch (sprachliches) Denken getrübt sind. Es ist deshalb nicht überraschend, dass Sprache wesentlich zur individuellen und gemeinschaftlichen Identitätsbildung beiträgt (vgl. Leiss 2009). Inwiefern diese unvermeidliche Abhängigkeit zutrifft, wird jedoch von Soziolinguisten und Kognitionspsychologen seit dem 19. Jahrhundert viel diskutiert.

Für Wilhelm von Humboldt sei Sprache „das bildende Organ des Gedankens“ (Humboldt VII: 53). Wenn man diese Behauptung annimmt, muss man folglich auch akzeptieren, dass unsere individuelle Identität durch unsere (Mutter-)Sprache grundlegend geprägt ist. Denn wenn ihr Einfluss sich über alles erstreckt, was „der Mensch denkt und empfindet, beschließt und vollbringt“ (Humboldt IV: 27), so folgt daraus, dass sich auch unsere eigene, persönliche Identitätskonstruktion im Medium der Sprache bewegen muss. Letztendlich konstruieren wir uns selbst beim Denken in der Einsamkeit, im Gespräch mit diesem Unbekannten, der wir selber sind.

Wenn das Denken unlösbar von der Sprache ist und die Sprache in ihrem Wesen in verschiedene einzelne Sprachen aufgespalten ist, heißt das, dass es auch nicht nur „ein“ Denken gibt, sondern dieses durch die eigene Sprache beeinflusst wird. In diesem Rahmen scheint es sinnvoll, das Prinzip der sprachlichen Relativität (auch als Sapir-Whorf-Hypothese bekannt) mit in Betracht zu ziehen, auch wenn viele Sprachwissenschaftler sich dagegen aussprechen. Laut dieser Hypothese ist die Art und Weise, wie ein Mensch denkt, durch die semantische Struktur und den Wortschatz seiner (Mutter-)Sprache beeinflusst und sogar bestimmt (vgl. Werlen 2002). Diese Annahme harmoniert auch mit der Idee von Humboldt, dass jede Sprache „eine spezifische Weltansicht [vermittelt]“ (Humboldt IV 420).

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Genauso wie ein körperliches Organ entwickelt sich für den Linguisten Noam Chomsky (1928) das Organ der Sprache. Seine Theorie nimmt an, dass die Grammatik eine angeborene menschliche Fähigkeit ist, die biologisch bestimmt sei: eine genetisch vorprogrammierte Unvermeidlichkeit (genauso z.B. wie der Milchzahnverlust in der Kindheit). Jedoch akzeptiert er, dass sich unser sprachliches Organ an die Struktur unserer Muttersprache anpasst. Genauso wie er die Struktur des englischen Dialekts seiner Heimatstadt Philadelphia (Pennsylvania) aufgesaugt hat, könnte er sein Organ an die Mundarten anderer Städte wie New York oder Boston angepasst haben.

Deshalb existiert für Chomsky eine Universalgrammatik, die allen Mensch gemein ist. Es handelt sich um einen vordefinierten Mechanismus, der als Basis für den Erwerb jeglicher Sprache funktioniert. So lässt sich zum Beispiel erklären, dass gehörlose Kinder trotz Taubheit eine Sprache erwerben können.

[/su_box] Jedoch hat sich beim Prinzip der sprachlichen Relativität die Unterscheidung zwischen einer starken und einer schwachen Form eingebürgert. In der stark deterministischen Version wird behauptet, dass die sprechende Person der Sprache ausgeliefert sei: „Sie kann gar nicht anders, als den Kategorien ihrer Sprache folgen“ (Werlen 2002). Laut der schwach deterministischen Form beeinflusst die Sprache die Wahrnehmung der Welt dagegen so, dass das Individuum sich von dieser Beeinflussung distanzieren kann. Es ist entsprechend verständlich, dass die stark deterministische Version kritisiert wird, da es schon unhaltbar ist zu meinen, dass das Bild der Welt, das ein Individuum hat, von seiner Sprache vollständig bestimmt ist (vgl. Elgin 2000: 51). Nichtsdestoweniger zeigt dieses Prinzip eine interessante Erklärung für die Erlebnisse aller Menschen, die mehr als eine Fremdsprache oder sogar einen Dialekt oder Fachjargon beherrschen. Wie wir sprechen, macht uns auch zu dem, was wir sind – und hat Einfluss darauf, wie wir auf andere wirken.

Wenn in jeder Sprache eine charakteristische Weltansicht steckt, so sollte die „Erlernung einer fremden Sprache die Gewinnung eines neuen Standpunkts in der bisherigen Weltansicht sein“ (Humboldt VII 6). Somit lösen wir uns nicht von der Verhaftung an die muttersprachliche Weltansicht, sondern treten nur von der einen zur anderen über. Karl der Große soll gesagt haben: „Eine andere Sprache zu sprechen, bedeutet, eine zweite Seele zu besitzen“. Ob wir tatsächlich für jede Sprache eine andere Identität übernehmen, ist jedoch empirisch schwierig zu belegen. Ein Deutsch sprechender und in Deutschland lebender, gebürtiger Spanier wird offensichtlich durch seinen Akzent als Spanier wahrgenommen, mit der unbeabsichtigten Folge, dass ihm auch die typischen Stereotypen aus Spanien zugeordnet werden, obwohl er sich in seinem eigenen Land vielleicht nie bewusst als Spanier identifiziert hat. Der Sprachwissenschaftler François Grosjean (1996) behauptet in diesem Zusammenhang: „What is seen as a change in personality is most probably simply a shift in situation or context, independent of language”.

Sprache und Identität zu reflektieren, ohne dabei auch über einzelne Nationen bzw. die eigene Herkunft nachzudenken, erscheint wenig sinnvoll – insbesondere im globalisierten 21. Jahrhundert. Denn eine Sprache lässt sich „nur in Verbindung mit einem Volke denken“ (Humboldt VI 189). „Seine Sprache ist sein Geist, und sein Geist seine Sprache“ (Humboldt VII 42). Jedoch leben wir in einer Welt, in der Englisch als globale Vernetzungssprache gilt; daher ist es wenig verwunderlich, dass die eigenen Sprachen der einzelnen Völker und Gemeinden zu einem Zeichen von Authentizität und kultureller Identität geworden sind, die man verteidigen und zurückerhalten muss (vgl. Fishman 2001). Wir bewegen uns also in die Richtung einer Sprachrealität, in der die Muttersprache (oder Identitätssprache) mit der beruflich-sozialen und der globalen Sprachen zusammenleben muss (vgl. Esteban Guitart et. al. 2007)

Es ist nach wie vor und trotz allem fraglich, inwieweit Sprache die Identität beeinflusst. Dennoch ist unbestreitbar, dass es einen grundlegenden Zusammenhang zwischen Identität und Sprache gibt. Vielleicht liegt genau in der Omnipräsenz der Sprache das Problem der Definition dieser Grenzen. Jedoch hat 2014 eine Untersuchung zum Thema Wirkung von Mehrsprachigkeit am Exzellenzcluster „Languages of Emotion“ der Freien Universität Berlin gezeigt, dass über die Sprache kulturelle Konzepte, Werte und Rollen im Geiste aktiviert werden. Auch wenn wir womöglich keine komplett andere Identität in jeder Sprache übernehmen, kann es sein, dass wir durch die verschiedenen Sprachen andere Facetten der eigenen Persönlichkeit hervortreten lassen.


Quellen

Elgin, S. H. (2000): The Language Imperative. Cambridge, MA: Perseus Books.

Esteban Guitart, M.; Nadal, J.M.; Vila, I. (2007): El papel de la lengua en la construcción de la identidad: un estudio cualitativo con una muestra multicultural. In: Glossa. 2. Jg. 2007/02. S. 1–20.

Fishman, J.A. (2001): El nou ordre lingüístic. Digithum. Revista digital d’humanitas, 3. Online verfügbar unter: https://www.uoc.edu/humfil/articles/cat/fishman/fishman.html [Zugriff: 09.06.2019].

Grosjean, F. (1996): Living with two languages and two cultures. In: Parasnis, I. (Hg.): Cultural and Language Diversity and the Deaf Experience. Cambridge: University Press. S. 20–37.

Humboldt, W.v. (1963): Schriften zur Sprachphilosophie. In: Flitner, A.; Giehl, K. (Hg.): Werke in fünf Bänden, Bd. III. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Leiss, E. (2009): Sprachphilosophie. De Gruyter Studienbuch. Berlin, New York: de Gruyter.

Werlen, I. (2002): Sprachliche Relativität: Eine problemorientierte Einführung. Basel: Francke.

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