Drag Wars, oder worum es beim „Gender-Wahn“ wirklich geht

„For the good of society — and especially for the good of the poor people who have fallen prey to this confusion — […] transgenderism must be eradicated from public life entirely — the whole preposterous ideology, at every level.”

Im Mai dieses Jahres hat die US Drag Ban-Welle auch Deutschland erreicht. Nachdem die Münchener Stadtbibliothek eine Drag Vorlesestunde für Kinder mit Drag Queen Vicky Voyage, Drag King Eric BigClit und trans* Autorin Julana Gleisenberg angekündigt hatte, gab es von verschiedenen konservativen Stimmen großen Widerstand und schließlich Demonstrationen und Gegenproteste (vgl. Steinbacher/Wolf 2023). Warum löst eine Bildungsveranstaltung solche Reaktionen aus? Welche Narrative verstecken sich hinter dem Widerstand gegen trans* Identitäten und wie hängen sie mit größeren politischen Kontexten zusammen? In diesem Kommentar werde ich versuchen, die Drag Wars in Anlehnung an Gayle Rubin, Amia Srinivasan, Antonio Gramsci und Nancy Fraser als moralische Panik zu konzeptualisieren, die vergleichbar zu den feministischen Sex Wars in den 80ern tieferliegende Missstände in der Gesellschaft offenlegt.

Um vorne anzufangen, sollte zunächst klar gemacht werden, was Michael Knowles mit Transgenderism meint. Der Begriff ist Bestandteil des Vokabulars einer größeren Bewegung, die nicht zuletzt intellektuellen Rückhalt von der römisch-katholischen Kirche hat. Papst Franziskus nennt die sogenannte „Gender Ideologie“ eine der „gefährlichsten, ideologischen Kolonialisierungen“ (Mares 2023, Para. 1) unserer Zeit und trägt damit zur Hetze gegen nicht-binäre und trans* Personen bei, während er zugleich den Spagat schafft, zu Gunsten von „Seelsorge für Menschen einer anderen sexuellen Orientierung“ (Mares 2023, para. 11) zu argumentieren. Auf der Suche nach einer kohärenten Logik innerhalb der reaktionären Anti-Gender Kreise lassen sich einige erstaunliche Widersprüchlichkeiten finden: die gleichen Menschen, die Kinder vor Lesungen von Drag Queens und einer vermeintlichen Frühsexualisierung beschützen wollen, streiten in der Regel zugleich ab, dass Kinder überhaupt über eine Form von Sexualität verfügen – eine Ansicht, gegen die schon Sigmund Freud (1910) argumentiert hat und die spätestens in der modernen Psychologie nicht mehr haltbar ist (vgl. Lamb et al. 2018). Wenn Gender und Sexualität nicht sozial formbar wären, wovor müssen sie dann beschützt werden? Oder sind sie gar doch sozial konstruiert, nämlich durch die bereits bestehende Gender Ideologie, der Kinder täglich ausgesetzt sind: blau-pinke Kinderkleidung, Kriegsspielzeuge für die einen, Puppen und Küchen für die anderen Kinder, Kinderfilme voller heterosexueller Pärchen, etc. Letztlich ist bereits die Artikulation der Angst, dass Drag die Kinder verderben könnte, ein erstaunliches Eingeständnis dahingehend, dass die soziokulturelle Bildung scheinbar doch maßgeblich zur Ausbildung der sexuellen Identität und Orientierung beiträgt. Angesichts dieser Inkohärenz und dem vermehrten Auftreten der trans*- und queerfeindlichen Diskurse, ergibt sich die Frage, worum es in dieser Auseinandersetzung wirklich geht. Erschöpft sich die Debatte in einer Angst oder Wut gegenüber geschlechtlicher oder sexueller Andersartigkeit, oder geht es möglicherweise um etwas völlig anderes?

Um eine erste Antwort auf diese Frage zu geben, lohnt sich ein kurzer Exkurs in die 80er Jahre. Zu dieser Zeit fanden in den USA die Sex Wars zwischen zwei verhärteten Lagern von Feminist*innen statt. Auf der einen Seite plädierten Anhänger*innen von Catharine MacKinnon und Andrea Dworkin für eine Abschaffung (d.h. Illegalisierung und Kriminalisierung) von Sexarbeit und eine staatliche Zensur von Pornos, die sie als „Maschine der Produktion und Reproduktion einer Ideologie“ sahen, durch die sich die männliche Domination und das „Erotisieren der weiblichen Subordination“ symbolisch wie reell manifestierte (Srinivasan 2021: 38).

Auf der anderen Seite bemühten sich laute Gegenstimmen wie Gayle Rubin oder Carole Vance um eine „pro-Sex“ (oder Sex-positive) Position, die sich gegen eine weitere Stigmatisierung von Sexarbeit(er*innen) und Zensur von pornographischem Material stark machten; nicht zuletzt, weil bereits (auf Grund von Race, Klasse oder sexueller Orientierung) marginalisierte Gruppierungen besonders anfällig dafür waren, aus dem normativen Raster dessen zu fallen, was als respektabel galt. Wie Amia Srinivasan (2021) in ihrer Übersetzung der damaligen Debatten in die aktuelle Zeit und in einen globaleren Kontext beschreibt, wurden von den feministischen Kampagnen daher vor allem lesbische, arme und/oder Frauen of Color getroffen, keineswegs die großen Porno-Konzerne oder kriminellen Organisationen, die ökonomischen Profit mit sexualisierter Zwangsarbeit und Menschenhandel verbanden.

Einen Höhepunkt erlebte die Auseinandersetzung im Jahr 1982 bei der „Barnard Sex Conference“ in New York City, auf der Rubin (1984: 4) argumentiert, dass „Sex immer bereits politisch ist“. Damit verweist sie darauf, dass Gender, Sex und Sexualität in Phasen gesteigerter „moralischer Paniken“ als Schauplatz für diffuse, emotional und normativ aufgeladene Auseinandersetzungen dienen, die sich im Kern gar nicht um die sexuellen Aktivitäten selbst drehen. Stattdessen fungieren sie in den „höchst symbolisch“ geführten Debatten bloß als „Signifikanten für persönliche und soziale Befürchtungen mit denen sie keine intrinsische Verbindung“ (Rubin 1984: 25) haben. In diesem Sinne werden heutzutage also gewisse queere und trans* Identitäten, Lebens- und sogar Kunstformen strategisch ausgewählt und so weit denunziert, bis deren allgemeine Mystifizierung es dem Staat ermöglicht, „seine Macht in neue Gebiete erotischen Verhaltens auszudehnen“ (Rubin 1984: 25). Auch wenn wir über Sex gerne als „den privatesten Akt denken“ (Srinivasan 2021: xii), ist er in Wirklichkeit immer schon Teil des öffentlichen Diskurses und wird, in der Terminologie von Michel Foucault, vom disziplinären und regulativen Machtapparatus als Bindeglied oder Relais benutzt, um zugleich individuelle Subjekte und eine (mehr oder minder abgeschlossene) Bevölkerung zu kreieren und zu verwalten. Gemäß dieser Beschreibung hängt unser gegenwärtiges diskursives, institutionelles und politisches System in seiner eigenen Funktionsweise derart vom Management unserer Sexualität, Genderidentität und unserer sexuellen Aktivitäten ab, dass die Ermittlung ihrer Bedeutungen notwendigerweise „Gegenstand politischer Kämpfe war, seit sie entstanden und sich weiterentwickelt haben“ (Rubin 1984: 34). Nach „der Weißen Sklaven Hysterie der 1880er, den anti-homosexuellen Kampagnen der 1950er und der Panik um Kinderpornographie der späten 1970er“, deklariert Rubin (1984: 25) daher die „Sex Wars“ zu einer weiteren moralischen Panik, in der Sexualität als „Vektor der Unterdrückung“ (Rubin 1984: 22) operiert. Zwar haben sich die Spannungen in der Auseinandersetzung um Pornographie und Sexarbeit im (westlichen) Feminismus größtenteils (zu Gunsten der „pro-Sex“-Seite) gelegt, sexuelle Aktivitäten bleiben aber dennoch weiterhin diskursiver Austragungsort von öffentlichen, normativen Paniken. Im lokalen Kontext der USA formieren sie sich im letzten Jahrzehnt hauptsächlich entlang von zwei Achsen: Schwangerschaftsabbruch und Anerkennung von trans* Identitäten.

Hegemonie

Der Begriff „Hegemonie“ stammt aus der marxistischen politischen Philosophie und entsteht laut Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (1985) als Antwort auf eine „Krise oder einen Kollaps der ‚normalen‘ geschichtlichen Entwicklung“ (Laclau/Mouffe 1985:1). Geprägt wurde der Begriff maßgeblich von Antonio Gramsci (2011), der damit politische Umstände konzeptualisiert, in denen „die Interessen und Tendenzen derjenigen Gruppen, über die die Hegemonie ausgeübt wird, berücksichtigt werden und ein gewisses Gleichgewicht etabliert wird“ (Gramsci 2011:183). Eine „hegemoniale“ Machtform operiert also, „indem sie unser alltägliches Verständnis sozialer Beziehungen formt und die Arten und Weisen orchestriert, durch die wir den stillschweigenden und verborgenen Machtbeziehungen zustimmen [consent] (und sie reproduzieren)“ (Butler 2000: 14).

Die verbalen und rechtlichen Angriffe der reaktionären Rechten sollten strategisch wie konzeptuell nicht als reine identitätspolitische Unstimmigkeiten begriffen werden, sondern vielmehr in ihrer komplexen Verflechtung mit anderen neo-faschistischen, rassistischen, xenophoben und nationalistischen Tendenzen als unvermeidbare, „morbide Phänomene“ verstanden werden, die in eben jenem „Interregnum“ auftreten, das entsteht, wenn ein altes soziopolitisches und -ökonomisches System „dabei ist zu sterben und das neue nicht geboren werden kann“ (Gramsci 2011: 33). In einem stark an Antonio Gramsci angelehnten Essay versucht die politische Philosophin Nancy Fraser (2019) das „Phänomen Trump“ als Antwort auf eine eben solche „hegemoniale Lücke [hegemonic gap]“ zu beschreiben, in der der bisher hegemoniale progressive Neoliberalismus (i.e. die Allianz zwischen toleranter Anerkennungspolitik und kapitalismusloyaler Wirtschaftspolitik) mehr und mehr an Glaubwürdigkeit verliert, da er die gesellschaftlichen Probleme nicht umfassend genug adressiert. Es ist daher, so Fraser (2019), kein Wunder, dass die ländliche, primär Weiße Arbeiter*innenklasse nach einer Alternative Ausschau gehalten hat, die vermeintlich in der Person von Donald Trump verkörpert wurde (was sich ebenfalls als Trugschluss herausstellte, da er im Wahlkampf zwar noch einen reaktionären Populismus versprach, letztlich aber seine hyperreaktionäre Anerkennungspolitik nicht mit einer populistischen Umverteilung zu Gunsten der Weißen Arbeiter*innen sondern, so wie seine Vorgänger, mit einer neoliberalen Wirtschaftspolitik verband). Genau in dieser raumzeitlichen und politischen hegemonialen Lücke, so meine These, treffen die Anti-Trans* Policies und Drag Bans auf fruchtbaren Boden, weil sie in der Lage sind, den Weißen Arbeiter*innen (und zugleich anderen konservativen Bevölkerungsgruppen) durch einen neuen Sündenbock eine schnelle und emotional wirksame Artikulationsplattform zu geben, ohne selbst alternative Auswege aus dem politischen Interregnum anbieten können zu müssen.

Nach Kämpfen gegen Abtreibung, Einwanderung aus Mexiko oder dem Nahen Osten und Critical Race Theory, wird die reaktionäre, neoliberale Policy-Palette der republikanischen Partei durch die Drag Bans erweitert. Letztere gehen in der Regel mit Gesetzen gegen Selbstbestimmung und grundständige Versorgung und Beratung von trans* Menschen einher, sodass insbesondere trans* Kinder und trans* Menschen in prekären Lebensverhältnissen ohne medizinische oder rechtliche Unterstützung dastehen. Angesichts dieses gesamtgesellschaftlichen Kontextes sollte die Antwort der progressiven linken (trans* und queeren) Community nicht sein, lediglich um die rechtliche Anerkennung von trans* Identitäten zu streiten. Die moralische Panik, die Sex(ualität) und Gender als wirksamen Ort ihrer Intensivierung gefunden hat, kann nur dann annäherungsweise gedämmt werden, wenn sie nicht als Ursache, sondern Folgephänomen eines tiefgreifenderen, politischen Problems verstanden wird. Um die tatsächlichen Wurzeln dieser Krise zu verstehen, müssen laut Nancy Fraser (2019) mindestens die Dimensionen Klasse und Race mitgedacht werden. Queer Theoretiker Jack Halberstam (2023) ergänzt zusätzlich die Frage des Alters und identifiziert die Auseinandersetzung um queere und trans* Identitäten als Teil eines Generationenkriegs. Beide Ansätze führen unweigerlich dazu, dass vor allem eines gefordert werden muss: eine bessere (Aus-)Bildung der Bevölkerung, die sich nicht auf identitätspolitische Diversität beschränkt, sondern die strukturellen Komponenten des sozioökonomischen und politischen Systems, d.h. die Verflechtung von Gender, Sexualität, Alter, Race und Klasse, enttarnt und bekämpft.

Literaturverzeichnis

Butler, J. (2000): Restaging the Universal: Hegemony and the Limits of Formalism. In: Butler, J.; Laclau, E.; Žižek, S. (Hg.): Contingency, Hegemony, Universality: Contemporary Dialogues on the Left. New York: Verso. S. 11–43.

Fraser, N. (2019): The Old Is Dying and the New Cannot Be Born: From Progressive Neoliberalism to Trump and Beyond. New York: Verso.

Freud, S. (1910): Die infantile Sexualität. In: Ders. (Hg.): Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Leipzig/Wien: Franz Deutike, S. 32–52.

Gramsci, A. (2011): Prison Notebooks. Volume II. New York: Columbia University Press.

Halberstam, J. (2023): Introduction to Sexuality Studies. Vorlesung, 01.05.2023. New York: Columbia University.

Laclau, E.; Mouffe, C. (1985): Hegemoncy and Socialist Strategy: Towards a Radical Democratic Politics. New York: Verso. 2. Auflage 2014.

Lamb, S.; White, L.; Plocha, A. (2018): Are Children Sexual?: Who, What, Where, When, and How?. In: Lamb, S.; Gilbert, J. (Hg.): The Cambridge Handbook of Sexual Development: Childhood and Adolescence. Cambridge: Cambridge University Press.  S. 17–34.

Mares, C. (2023): Pope Francis: Gender ideology is ‚one of the most dangerous ideological colonizations‘ today. In: Catholic News Agency, 11.03.2023. Online verfügbar unter: https://www.catholicnewsagency.com/news/253845/pope-francis-gender-ideology-is-one-of-the-most-dangerous-ideological-colonizations-today [Zugriff: 26.06.2023].

Rubin, G. (1984): Thinking Sex: Notes for a Radical Theory of the Politics of Sexuality. In: Abelove, H. (Hg.): The Lesbian and Gay Studies Reader. New York: Routledge. 1993. S. 3–44.

Srinivasan, A. (2021): The Right to Sex. Feminism in the 21st Century. New York: Farrar, Straus and Giroux.

Steinbacher, M.; Wolf, G. (2023): Geplante Drag-Lesung für Kinder sorgt für Kulturkampf in München. In: Tagesschau, 08.05.2023. Online verfügbar unter: https://www.tagesschau.de/inland/regional/bayern/br-geplante-drag-lesung-fuer-kinder-sorgt-fuer-kulturkampf-in-muenchen-100.html [Zugriff 10.06.2023].

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