Drei Promovierende, drei Fächer und mindestens ein dutzend Meinungen. Drei Personen, die auch sonst abends gerne zusammensitzen und diskutieren. Drei Blickwinkel und mindestens eine Erkenntnis: Nämlich, das, was womit gemeint ist, auch im wissenschaftlichen Kontext häufig gar nicht so eindeutig ist. Dabei geht es um ein Thema, das alle drei beschäftigt: Den Umgang mit Unsicherheiten. Felix Engelhardt arbeitet als Mathematiker an der Optimierung unter Unsicherheiten, Ann-Kristin Winkens forscht als Umweltingenieurin zum Umgang mit Unsicherheiten und dazugehörigen Kompetenzen und Sönke Hebing beschäftigt sich mit der Geschichte der Zukunftsforschung, also der Frage, inwiefern unsere Planung der Vergangenheit den Test der Zeit überstanden hat.
Sönke
Hallo ihr beiden, mich interessiert eure fachliche Expertise: In meiner Forschung beschäftige ich mich oft mit Naturkatastrophen und wie Versicherungen damit umgehen. Meist geschieht irgendwo auf der Welt ein Erdbeben, eine Flut oder ein großer Sturm. Die Fragen sind dann immer ähnlich: Ursachen, Bauvorschriften, Versicherungsprämien. Aber das scheint mir das Problem nicht ausreichend zu adressieren. Denn es wäre wünschenswert, dass solche Katastrophen sich möglichst nicht wiederholen und Vorsorge getroffen wird. Aber was heißt es, Vorsorge zu treffen? Kann man aus den Katastrophen der Vergangenheit lernen und falls ja, wie? Wer oder was kann überhaupt vorbereitet sein? Geht es um Systeme, Institutionen oder Einzelpersonen? Geht es eher um das Verhindern der Krise oder darum, gut an sie angepasst zu sein? Und was heißt überhaupt „gut“; inwiefern gibt es hier normative Voraussetzungen? Zu guter Letzt: Ist gute Vorbereitung messbar? Dahinter scheint mir eine Frage zu stecken, die zu den Grundfragen vieler Wissenschaften zählt: Wie sieht ein gelungener Umgang mit den Unwägbarkeiten der Zukunft aus?
Felix
Also, als Einzelperson sind viele Risiken schwer kalkulierbar, aber gut managebar: Arbeitslosigkeit, Einbruch oder Krankheit kann ich finanziell versichern oder durch Vorsorge, wie Weiterbildung, Sicherheitsschloss oder gesunde Ernährung, verringern. Wer also eine gute Ausbildung hat, was für seine Gesundheit tut, sinnvoll versichert ist und einen Notgroschen auf dem Konto hat, ist auf jeden Fall gut dabei. Bei Institutionen und Systemen, insbesondere kritischer Infrastruktur, gestaltet sich das im Allgemeinen schwieriger. Was ich bewerten kann, ist, inwiefern ein System robust gegenüber einer Menge an Szenarien ist. Dabei heißt bewertbar aber nicht unbedingt messbar, denn experimentell Überprüfen lässt sich nur selten und erst recht nicht bei unerwarteten und neuen Ereignissen, die man vorher gar nicht im Sinn hatte.
Resilienz
“The ability to prepare and plan for, absorb, recover from, or more successfully adapt to actual or potential adverse events.” (National Research Council 2012: 16)
“It stays the same kind of system by learning from a disturbance, to be able to better cope with a similar disturbance in the future. It does not bounce back to look and behave exactly like it did before. Resilient systems are learning systems.” (Walker 2020)
Ann-Kristin
Bei dem letzten Punkt würde ich dir zustimmen. Aber warum sprichst du von Robustheit? Robustheit bedeutet, dass ich nach einer Störung wieder den Ausgangszustand herstellen kann. Es gibt sicherlich Situationen, in denen das sinnvoll ist, aber dann habe ich weder daraus gelernt noch adaptive Fähigkeiten entwickelt. Das ist Resilienz. Stell es dir grafisch als Funktion vor: Sind Anfangs- und Endzustand identisch, ist es ein robustes Systemverhalten; liegt der Endzustand über dem Anfangszustand, sprechen wir von resilientem Verhalten. Die Zustände können beispielsweise die Funktionsfähigkeit beschreiben.
Felix
Deine Definition von Robustheit ist aber doch nicht allgemeingültig: Nach einer Störung den Ausgangszustand wiederherzustellen, ist im Allgemeinen weder möglich noch gewollt. Natürlich stehe ich als Landwirt*in nach einer Dürre schlechter da als nach einem guten Jahr und ein Vulkanausbruch lässt sich nicht umkehren. Genauso ist es eine zu starke Vereinfachung, dass sich komplexe Systeme auf einen Wert reduzieren lassen. Beispielsweise kann eine Firma nach einer Krise denselben Marktwert haben wie vorher, aber vollkommen anders aufgestellt sein und andere Geschäftsfelder haben. Das würde ich als robust bezeichnen, oder nachhaltig.
Ann-Kristin
Wissenschaftlich gibt es dazu einschlägige Forschung: Das, was du beschreibst, wäre resilient und eben nicht robust. Hier ist das Lernen aus Krisen ein zentraler Aspekt. Konkret beschreibt Resilienz die Fähigkeit von beispielsweise Individuen, Systemen oder Gesellschaften, nach einer Krise nicht nur wieder die ursprünglichen Fähigkeiten herzustellen (das wäre dann Robustheit), sondern adaptive Kapazitäten zu entwickeln, das heißt aus der Krise zu lernen. Brian Walker, ein führender Resilienzforscher, hat das ganz treffend formuliert: Resiliente Systeme sind lernende Systeme.
Robustheit vs. Resilienz
“[…] Amongst nonscientist policy makers there is a tendency to assume that building resilience means making it ‘robust’, resistant to change, able to stay the same despite stress or a disturbance. And in general this will reduce resilience.” (Walker 2020)
Felix
Da möchte ich widersprechen: Warum adaptive Fähigkeiten nur nach der Krise entwickeln? Wenn ich robust plane, dann will ich ja trotz Krisen gut dastehen. Das heißt, ich muss mir vorher überlegen, was ich heute, vor und während möglicher Krisen tun kann (und was das kostet). Das beantworte ich dann ausgehend von allen verfügbaren Daten und handle entsprechend. Das Lernen nach der Krise ist folglich nichts anderes als ein Update unserer Datenbasis, nicht mehr und nicht weniger.
Ann-Kristin
Naja, nachher ist auch vorher. Gehen wir von neuen und bisher unbekannten Krisen aus oder von bereits bekannten? Für erstere bedarf es neben adaptiven Fähigkeiten einer grundlegenden Änderung der Denkweise. Wir sollten nicht nur mit dem Wahrscheinlichen, sondern eben auch mit dem Möglichen planen. Also eine Verknüpfung von proaktiven und reaktiven Methoden. Hier greift dein Punkt zu kurz – was ist, wenn du gar keine verfügbaren Daten hast? Das würde für zweiteres funktionieren, also bekannte und berechenbare Krisen. Resilienz geht aber eben auch von unbekannten Krisen aus, sogenannte Schwarze Schwäne. Und von denen werden wir immer überrascht.
Felix
Von Wahrscheinlichkeiten habe ich nie gesprochen: Das ist Stochastik und Statistik. Wenn ich von robuster Optimierung rede, dann ist der springende Punkt genau, dass keine Wahrscheinlichkeiten bekannt sind.
Robuste Optimierung
Robuste Optimierung ist ein Teilgebiet der mathematischen Optimierung, in dem versucht wird, gute Handlungsempfehlungen für Probleme unter Unsicherheit zu geben. Wesentliche Ansätze sind dabei das Planen mit worst-case Szenarien (vgl. Soyster 1973), die Suche nach Lösungen, die wahrscheinlich in fast allen Fällen funktionieren (vgl. Ben-Tal/Nemirovski 2000), und der Versuch, den Effekt mehrerer gleichzeitiger Abweichungen/Schäden zu quantifizieren (vgl. Bertsimas/Sim 2004). Hier steht das Handeln vor der Realisierung der Krise/Unsicherheit im Mittelpunkt. Krisen kompensieren kann aber auch bedeuten, genügend Anpassungsfähigkeit vorzuhalten, um eine Krise nach Eintreten mit vertretbarem Aufwand kompensieren zu können (vgl. Liebchen et al. 2009).
Ann-Kristin
Nein, das wäre dann vielleicht resiliente, aber doch keine robuste Optimierung (falls es diesen Begriff überhaupt gibt). Das habe ich ja bereits erläutert. Robustheit kannst du quasi mit Stabilität oder auch Widerstandsfähigkeit gleichsetzen.
Felix
Was Robustheit angeht, da gebe ich dir gerne recht. Robuste Optimierung ist aber etwas anderes. Diese zielt nicht darauf ab, Robustheit zu definieren. Stattdessen ist sie ein Werkzeug, was in der mathematischen Optimierung verwendet wird, um konkrete Probleme resilient/widerstandsfähig/robust/unsicher zu planen. Hier geht es also um die reine Arbeitsebene und was genau das Begriffsverständnis dahinter ist, hängt immer von den konkreten Problemanforderungen aus der Praxis ab. Und Adaptivität und Anpassung, die können dabei auch Teil robuster Optimierung sein.
Ann-Kristin
Achso! Dann haben wir also die ganze Zeit aneinander vorbeigeredet. Wir können also festhalten, dass wir die Begriffe nicht zwangsläufig im Detail durchdringen müssen, aber wissen sollten, dass es da verschiedene Diskurse gibt. Sönke, sind damit nun alle Klarheiten beseitigt?
Sönke
Na, da habe ich ja eine interessante Diskussion in Gang gesetzt. Ich nehme daraus mehrere Dinge mit: Erstens gibt es viele Problemstellungen, mit denen sich verschiedene Wissenschaftsdisziplinen aus ihrer je eigenen Perspektive beschäftigen. Oftmals existiert eine Vielzahl an Begriffen, Definitionen und Konzepten, die zwar Ähnliches, aber keineswegs immer exakt das Gleiche beschreiben.
Aus historischer Perspektive kann ich zweitens noch hinzufügen, dass alle wissenschaftlichen Konzepte und Definitionen auch immer Produkte ihres Entstehens- und Verwendungskontextes sind. In jeder Zeit stellen sich den Menschen (und Wissenschaftler*innen) neue, ganz eigene Probleme, auf die sie wiederum eigene Antworten suchen und formulieren. Zum Beispiel fiel die Entwicklung des Resilienzkonzepts in eine Zeit, in der die klassische Prävention an ihre Grenzen stieß. So führten etwa Flussbegradigungen zwar zu weniger Hochwassern an einer Stelle, konnten an einer anderen aber umso größere Katastrophen verursachen.
Eure Debatte über Robustheit und Resilienz zeigt sehr schön, worauf es eigentlich in der Wissenschaft ankommt. Die meisten Probleme und Mittel ihrer Beschreibung und Lösung sind so komplex, dass es viele unterschiedliche Begriffe, Konzepte und Methoden gibt. Oft entwickeln sich in verschiedenen Fächern und Disziplinen völlig unabhängig voneinander Diskurse um ähnliche Themenfelder. Es ist keine gute Idee, ein neues oder unbekanntes Konzept unreflektiert zu übernehmen oder abzulehnen. Um nicht den Überblick und das Verständnis füreinander zu verlieren, kommt es darauf an, sorgfältig zu lesen, zu verstehen und in den Kontext zu setzen. Verschiedene Perspektiven tragen oft sogar entscheidend dazu bei, ein Problem umfassend zu verstehen. Kurz: Gute Wissenschaft kann gar nicht anders als Vielfalt auszuhalten und produktiv zu nutzen.
Weiterführende Literatur
Ben-Tal, A.; Nemirovski, A. (2000): Robust solutions of linear programming problems contaminated with uncertain data. Mathematical Programming, 88. S. 411–424.
Bertsimas, D.; Sim, M. (2004): The Price of Robustness. Operations Research, 52(1). S. 35–53.
Hannig, N. (2019): Kalkulierte Gefahren. Naturkatastrophen und Prävention seit 1800. Göttingen: Wallstein.
Liebchen, C.; Lübbecke, M.; Möhring, R.; Stiller, S. (2009): The Concept of Recoverable Robustness, Linear Programming Recovery, and Railway Applications. In: Ahuja, R. K.; Möhring, R. H.; Zaroliagis, C. D. (Hg.): Robust and Online Large-Scale Optimization. Lecture Notes in Computer Science, 5868. Berlin, Heidelberg: Springer.
National Research Council (2012): Disaster Resilience: A National Imperative. Washington, DC: The National Academies Press.
Soyster, A. (1973): Convex programming with set-inclusive constraints and applications to inexact linear programming. Operations Research, 21(4). S. 1154–1157.
Walker, B. (2020): Resilience: what it is and is not. Ecology and Society, 25(2).