Diversität im Darm

Bakterien, Viren, Pilze: Um die 100 Billionen Mikroorganismen besiedeln den menschlichen Körper, vor allem den Darm (vgl. Kuhn 2019). Unter dem Begriff „Mikrobiom“ haben sich die Kleinstlebewesen im Menschen einen Namen gemacht; 2017 waren es allein 4000 Publikationen, die sich mit der Bedeutung der Darm-Mitbewohner auseinandersetzen (vgl. Cani 2018). Nicht nur hinsichtlich der Zusammensetzung kann zurecht von Diversität gesprochen werden, auch die Aufgaben des Mikrobioms sind vielfältig: Zahlreiche Prozesse im Körper sollen vom mikrobiellen Gleichgewicht beeinflusst werden; die Liste an Erkrankungen, deren Hergang mit Dysbalancen im Darm in Zusammenhang gebracht wird, erweitert sich stetig. Neben gesellschaftlich weit verbreiteten Krankheitsbildern wie Diabetes mellitus, dem metabolischen Syndrom (vgl. Chen/Devaraj 2018) oder chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (vgl. Trakman et al. 2022) sollen auch multiple Sklerose und rheumatoide Arthritis mit Störungen der intestinalen Flora einhergehen (vgl. Haase et al. 2020). Auch die Erforschung von Depressionen und Alzheimer verlagert ihren Fokus zunehmend in den menschlichen Darm (vgl. Kuhn 2019).  Forscher*innen gehen von einem großen Potenzial aus, welches in der Untersuchung des Mikrobioms liegt, verweisen jedoch auch auf bestehende Wissenslücken: Trotz zahlreicher Erkenntnisse bleibt die Entschlüsselung des Mikrobioms herausfordernd, einige Wissenschaftler*innen sprechen von der dunklen Materie im Darm (vgl. Jiao et al. 2020). Worin besteht sie, die mikrobielle Diversität? Und welches Potenzial birgt die Erforschung des Mikrobioms für die Gesundheit des Einzelnen? 

Vom ungeahnten Innenleben des Menschen

Welcher Herausforderung Forscher*innen gegenüberstehen, zeigt sich am Bestreben, das humane Stuhlmikrobiom in Gänze zu erfassen: Derzeit gehen Wissenschaftler*innen von 1000 unterschiedlichen Bakterienspezies aus, welche weltweit im menschlichen Darm vorkommen können. Kultiviert werden konnten davon bislang nur etwa ein Drittel. Das „Human Microbiome Project“ gilt als eine der bislang umfassendsten Studien, um mögliche Zusammenhänge zwischen mikrobieller Diversität und menschlichem Organismus zu entschlüsseln (vgl. Lloyd-Price et al. 2017). Dennoch kann trotz zahlreicher Daten eine konkrete Definition des sogenannten Referenz-Mikrobioms, dem Mikrobiom im Normalzustand, (noch) nicht konkretisiert werden. Das bisherige funktionelle Verständnis stützt sich auf Hypothesen (vgl. Almeida et al. 2021). Bekannt ist, dass im Durchschnitt bis zu 160 verschiedene Bakterienspezies den menschlichen Darm besiedeln. Ob ein Bakterium positiv oder negative Auswirkungen auf die Darmflora ausübt, hängt jedoch maßgeblich von der bakteriellen Zusammensetzung in der Umgebung ab. Eine eindeutige Unterteilung in nützliche und schädliche Mikroorganismen erweist sich als komplex (vgl. Young et al. 2017). Inwiefern das Mikrobiom an der Entstehung bestimmter Krankheiten beteiligt ist, bleibt unklar.

Heilung im Darm? 

Trotz fehlender Daten erhoffen sich Forscher*innen vielversprechende Erkenntnisse für die medizinische Praxis: Neue Therapiemöglichkeiten sollen darauf abzielen, die mikrobielle Darmflora präzise zu modifizieren, um Symptome zu lindern oder präventiv Krankheitsausbrüche zu verhindern. Methoden wie Stuhltransplantationen oder die Supplementierung von probiotischen Bakterien wären Beispiele hierfür (vgl. Wolter et al. 2021). Auch die Ernährung rückt immer mehr in den Fokus von Interventionsmöglichkeiten, einige Forscher*innen bezeichnen sie als den entscheidenden Faktor (vgl. Trakman et al. 2022). Mit Fehlernährung assoziierte Krankheitsbilder, beispielsweise Adipositas, werden immer mehr auf mikrobielle Veränderungen im Darm zurückgeführt; auch bei dem bekannten „Jo-Jo“ Effekt nach Diäten sollen die Kleinstlebewesen eine Rolle spielen. Diesbezüglich werben Vertreiber kommerzieller Mikrobiomanalysen mit dem Versprechen, Übergewicht oder funktionelle Beschwerden durch individualisierte Ernährungsempfehlungen zu therapieren. Angesicht der steigenden Nachfrage von Patient*innen werden Mediziner*innen zunehmend vor die Frage gestellt, wie die Ergebnisse solcher Analysen zu beurteilen sind (vgl. Gorkiewicz 2021). Lässt sich das Mikrobiom präzise beeinflussen?

Jeder is(s)t anders

Jedes Mikrobiom unterliegt verschiedenen Einflüssen: Genetik, Lebensumfeld, Alter oder Antibiotika-Einnahme können das intestinale Milieu verändern. Insbesondere die Ernährung spielt eine wichtige Rolle, schon von Kindheitstagen an (vgl. Trakman et al. 2022). Dominieren zu Beginn des Lebens noch Bifidobakterien aufgrund der milchbasierten Kost, so kommt es im Laufe der ersten Lebensjahre mit der Aufnahme von fester Nahrung zu einer exponentiellen Zunahme an mikrobiellen Besiedlern im Darm (vgl. Yatsunenko et al. 2012). Laut Dr. Gina Trakman von der La Trobe University in Melbourne (vgl. Trakman et al. 2022) werden schon in frühen Lebensjahren die Weichen für das spätere Risiko gestellt, an entzündlichen Darmerkrankungen oder kolorektalem Krebs zu erkranken. In ihrer Studie von 2021 untersuchten sie und ihre Kolleg*innen den Zusammenhang von Ernährung und damit einhergehenden mikrobiellen Veränderungen bei Patient*innen, die bereits an einer Erkrankung des Gastrointestinaltraktes litten (vgl. ebd.). Sie konnten nachweisen, dass sich die Ernährungsgewohnheiten der Proband*innen maßgeblich auf das intestinale Gleichgewicht auswirkten: So gingen allgemein als gesund bekannte Nahrungsmittel wie Obst und Gemüse, Vollkornprodukte, Joghurt und Nüsse mit dem Wachstum von Bakterienstämmen einher, die sich positiv auf den Krankheitsverlauf auswirkten. Bei Proband*innen, die hauptsächlich pflanzliche Nahrung zu sich nahmen, konnte eine erhöhte Anzahl anti-inflammatorischer Bakterien, wie zum Beispiel Laktobazillen oder Bifidobakterien nachgewiesen werden (vgl. Trakman et al. 2022). Diese Erkenntnisse decken sich weitestgehend mit den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) nach der eine vollwertige Kost möglichst abwechslungsreich und pflanzenbasiert gestaltet werden (vgl. Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V. o. D.). Andere Lebensmittel hingegen zeigten nachteilige Effekte. So ging der Verzehr von rotem Fleisch, Alkohol oder gesüßten Lebensmitteln mit einer verminderten mikrobiellen Vielfalt einher (vgl. Trakman et al. 2022). Die Tatsache, dass entzündliche Darmerkrankungen vor allem in Industrienationen weit verbreitet sind, legt einen Zusammenhang nahe, da dort vermehrt Produkte der „western diet“ (westliche Ernährung) konsumiert werden. Der Begriff beschreibt eine Ernährungsform, bei der größtenteils stark verarbeitete Nahrung, wenig Ballaststoffe und überwiegend tierische Lebensmittel mit einem hohen Anteil gesättigter Fettsäuren verzehrt werden. Angesichts kommerziell erhältlicher Mikrobiomanalysen fordern nun immer mehr Patient*innen den Status ihrer Darmflora an, in der Hoffnung mit individualisierten Ernährungstipps die eigene Gesundheit zu fördern.                          Die Kosten für solche Analysen können je nach Hersteller bis zu mehrere hundert Euro betragen, die Krankenkasse übernimmt diese bislang nicht (vgl. VerbraucherService Bayern 2020). Lohnt sich eine solche Investition?

Diversität aus der Kloschlüssel

Bei jedem Menschen weist die Zusammensetzung des Mikrobioms ein einzigartiges Bild auf, (vgl. Gorkiewicz 2021). Kommerziell erhältliche Tests aus Apotheken oder dem Internet werben damit, jene Einzigartigkeit präzise zu analysieren, ganz einfach von zuhause aus. Hierfür werden eingesendete Stuhlproben mithilfe molekularbiologischer Methoden auf vorhandene Bakterienspezies untersucht. Analog zu einem Fingerabdruck entsteht für jede Probe ein hochindividuelles Muster an Mikroben. Der Vergleich zur „Normal-Flora“ soll dann anhand berechneter „Dysbiose-Indizes“ Rückschlüsse über den Zustand des Mikrobioms geben (vgl. Gorkiewicz 2021). Soweit die Theorie.                                                                                                               In der Praxis stellen zahlreiche Argumente die Aussagekraft derartiger Analysen in Frage: Schon die komplexe Kultivierung von Mikroorganismen außerhalb des Organismus stellt eine Hürde dar: Der Großteil der wichtigsten Darmbakterien kann nur unter Sauerstoffausschluss gedeihen (sogenannte Anaerobier) oder benötigt Helferbakterien im unmittelbaren Umfeld, um zu überleben (vgl. Gorkiewicz 2021). Abhängig von der Zustellungsdauer zum Labor können Ergebnisse der eingesendeten Proben folglich unterschiedlich ausfallen (vgl. VerbraucherService Bayern 2020). Ein weiteres Argument, welches die Sinnhaftigkeit von frei erhältlichen Mikrobiomanalysen in Frage stellt, ist die fehlende Differenzierung der Bakterien auf Stammesebene. Um dezidierte Aussagen hinsichtlich einer möglichen Pathogenität zu treffen, ist diese Erfassung jedoch durchaus von Relevanz (vgl. Gorkiewicz 2021).  Das Beispiel des Bakteriums Escherichia coli, in der Regel ein harmloser Darmbewohner, macht deutlich, dass ein und dieselbe Bakterienspezies je nach Stamm harmlos oder schädlich sein kann. So ruft der enterohämorrhagische Escherichia coli Stamm (kurz EHEC) schwere Durchfälle hervor. Angesichts der zur Auswertung genutzten Dysbiose-Indizes gibt es ebenfalls Beanständungen: Auch bei gesunden Menschen kann eine Dysbiose, also ein Ungleichgewicht der Darmflora, auftreten, ohne dass daraus eine klinisch relevante Symptomatik resultiert (vgl. Casén et al. 2015). Eine aussagekräftige Analyse, die der Diversität des Mikrobioms gerecht wird, müsste streng genommen auch die Erfassung weiterer Mikroorganismen wie Viren und Pilze miteinbeziehen (vgl. Shkoporov et al. 2019). Die Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) findet hinsichtlich der Sinnhaftigkeit von kommerziellen Mikrobiomanalysen klare Worte: Diese seien „Teuer und sinnlos“. (DGVS 2018: 1) Kausale Zusammenhänge zwischen temporären Dysbalancen des Mikrobioms sowie bestimmter Pathomechanismen lassen sich anhand derzeitiger Forschungsergebnisse nicht ableiten. Vermeintlich Darm-konforme Ernährungsempfehlungen könnten schlimmstenfalls bei Patienten zu Mangelernährung führen (vgl. DGVS 2018). Die Sinnhaftigkeit von kommerziell angebotenen Mikrobiomanalysen hinsichtlich eines medizinischen Nutzens für Patient*innen ist unter diesen Aspekten kritisch in Frage zu stellen.

Darm gut, alles gut (?)

Ob Mikrobiomveränderungen Ursache oder Folge einer Krankheit sind, bleibt offen. Mögliche Zusammenhänge zwischen Darmflora und spezifischen Erkrankungen beschränken sich derzeit auf Hypothesen. Eine klare Definition des Mikrobioms fehlt bisweilen und bleibt angesichts der individuellen Diversität komplex. Neue Mikrobiommodulierende Therapieansätze wie Probiotika oder Stuhltransplantationen finden bisher nur vereinzelt praktische Anwendung und müssen zunächst im klinisch-experimentellen Feld weiter erprobt werden. Um das Potenzial von Mikrobiomanalysen zu erschließen, bedarf es weiterer intensiver Forschung. Dann könnte das Wissen über die mikrobielle Diversität eines Tages von individuellem Nutzen sein.

 

Literature

Almeida, A.; Nayfach, S.; Boland, M.; Strozzi, F.; Beracochea, M.; Shi, Z.; Pollard, K.; Sakharova, E.; Parks, D.; Hugenholtz, P.; Segata, N.; Kyrpides, N.; Finn, R. (2021): A unified catalog of 204,938 reference genomes from the human gut microbiome. In: Nature biotechnology, 39(1). S. 105–114.

Cani, P. (2018): Human gut microbiome: hopes, threats and promises. In: Gut, 67(9). S. 1716–1725.

Casén, C.; Vebø, H.; Sekelja, M.; Hegge, F.; Karlsson, M.; Ciemniejewska, E.; Dzankovic, S.; Frøyland, C.; Nestestog, R.; Engstrand, L.; Munkholm, P.; Nielsen, O.; Rogler, G.; Simrén, M.; Öhman, L.; Vatn, M.; Rudi, K. (2015): Deviations in human gut microbiota: a novel diagnostic test for determining dysbiosis in patients with IBS or IBD. In: Alimentary pharmacology & therapeutics, 42(1). S. 71–83.

Chen, X.; Devaraj, S. (2018): Gut Microbiome in Obesity, Metabolic Syndrome, and Diabetes. In: Current diabetes reports, 18(12). S. 129.

Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V (o. J.): Vollwertig essen und trinken nach den 10 Regeln der DGE. Online verfügbar unter: https://www.dge.de/ernaehrungspraxis/vollwertige-ernaehrung/10-regeln-der-dge/ [Zugriff: 12.11.2022].

DGVS Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (2018): Teuer und sinnlos: DGVS rät von Stuhltests zur Analyse des Darm-Mikrobioms ab. Online verfügbar unter: https://www.dgvs.de/wp-content/uploads/2018/09/PM_2018_09_Stuhltests-Mikrobiom.pdf [Zugriff: 12.11.2022].

Gorkiewicz, G. (2021): Mikrobiomanalysen: Welchen Sinn haben sie für die Praxis? In: Journal für Gastroenterologische und Hepatologische Erkrankungen, 19(4). S. 98–104.

Haase, S.; Wilck, N.; Haghikia, A.; Gold, R.; Mueller, D.; Linker, R. A. (2020): The role of the gut microbiota and microbial metabolites in neuroinflammation. In: European journal of immunology, 50(12). S. 1863–1870.

Jiao, J.; Liu, L.; Hua, Z.; Fang, B.; Zhou, E.; Salam, N.; Hedlund, B.; Li, W. (2021): Microbial dark matter coming to light: challenges and opportunities. In: National science review, 8(3). S. nwaa280.

Kuhn, G. (2019): Neue Darmflora-Analyse: Wie sinnvoll ist es, mein Mikrobiom testen zu lassen?. Online verfügbar unter: https://kurier.at/gesund/neue-darmflora-analyse-wie-sinnvoll-ist-es-mein-mikrobiom-testen-zu-lassen/400497955 [Zugriff: 09.12.2022].

Lloyd-Price, J.; Mahurkar, A.; Rahnavard, G.; Crabtree, J.; Orvis, J.; Hall, A.; Brady, A.; Creasy, H.; McCracken, C.; Giglio, M.; McDonald, D.; Franzosa, E.; Knight, R.; White, O.; Huttenhower, C. (2017): Strains, functions and dynamics in the expanded Human Microbiome Project. In: Nature, 550(7674). S. 61–66.

Shkoporov, A.; Clooney, A.; Sutton, T.; Ryan, F.; Daly, K.; Nolan, J.; McDonnell, S.; Khokhlova, E.; Draper, L.; Forde, A.; Guerin, E.; Velayudhan, V.; Ross, R.; Hill, C. (2019): The Human Gut Virome Is Highly Diverse, Stable, and Individual Specific. In: Cell host & microbe, 26(4). S. 527-541.e5.

Trakman, G.; Fehily, S.; Basnayake, C.; Hamilton, A.; Russell, E.; Wilson-O’Brien, A.; Kamm, M. (2022): Diet and gut microbiome in gastrointestinal disease. In: Journal of gastroenterology and hepatology, 37(2). S. 237–245.

VerbraucherService Bayern (2020): Top oder Flop? Darmtests für zuhause. Online verfügbar unter: https://www.verbraucherservice-bayern.de/themen/ernaehrung/top-oder-flop-darmtests-fuer-zuhause [Zugriff: 12.11.2022].

Wolter, M.; Grant, E.; Boudaud, M.; Steimle, A.; Pereira, G.; Martens, E.; Desai, M. (2021): Leveraging diet to engineer the gut microbiome. In: Nature reviews. Gastroenterology & hepatology, 18(12). S. 885–902.

Yatsunenko, T.; Rey, F.; Manary, M.; Trehan, I.; Dominguez-Bello, M.; Contreras, M.; Magris, M.; Hidalgo, G.; Baldassano, R.; Anokhin, A.; Heath, A.; Warner, B.; Reeder, J.; Kuczynski, J.; Caporaso, J.; Lozupone, C.; Lauber, C.; Clemente, J.; Knights, D.; Knight, R.; Gordon, J. (2012): Human gut microbiome viewed across age and geography. In: Nature, 486(7402). S. 222–227.

Young, V. (2017): The role of the microbiome in human health and disease: an introduction for clinicians. In: BMJ (Clinical research ed.), 356. S. j831.

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