Die Lebensreise des kleinen Baumes

Einst wuchs im Schwarzwald ein junger Baum auf, in dem Unruhe keimte. Je größer er wurde, desto mehr Unruhe kam in ihm auf. Er saß passiv in der Baumschule und hörte den Lehrer*innen bloß mit einem Ohr zu, während diese von Waldkunde oder anderen Sprachen erzählten. „Das kann doch nicht alles sein, da draußen ist noch so viel mehr“, dachte sich der kleine Baum. Er würde so gerne den Wald und die anderen Spezies selber erkunden, anstatt von diesen zu hören und das für Prüfungen auswendig lernen zu müssen. Auch neue Sprachen sind eigentlich ganz interessant, aber wofür soll der kleine Baum sie lernen, wenn er sowieso nur an Ort und Stelle bleibt?

Einige Zeit später fragte seine Familie den kleinen Baum, was denn los sei. Also berichtete er ihnen von seiner Sehnsucht. Da sie sahen, dass der kleine Baum langsam welkte und sich nicht mehr wohl fühlte, bestärkten sie ihn, dem Traum zu folgen.

Also bereitete sich der kleine Baum, im Anschluss an seinen Schulabschluss, auf eine lange, lange Reise vor. Die ersten Tage seiner Reise waren ziemlich einsam. Er war den ganzen Tag unterwegs und abends wog er sich weinend in den Schlaf, da er seine Familie vermisste. Doch schon nach einer Woche lernte der Baum andere Gewächse kennen. Als der kleine Baum endlich in Südspanien ankam und seine erste Palme sah, machte er einen Freudentanz! Er war endlich am Ziel angekommen. Sofort kam er mit den Palmen ins Gespräch und war hin und weg von ihren Geschichten. Er traute seinen Ohren kaum, als sie von endlosen Sommernächten, klaren Sternenhimmeln und Partys berichteten. Das war genau das, was der kleine Baum immer wollte! Also beschloss er einfach da zu bleiben und mit ihnen zu leben.

Nach einiger Zeit welkten seine Blätter wieder. Zunächst ignorierte er es, da er so glücklich mit seinem neuen Leben am Meer war und die neuen Erfahrungen sehr genoss. Als allerdings die ersten Blätter abfielen und seine Wurzeln nicht mehr tief genug reichten, um genügend Wasser zu ziehen, fing der kleine Baum an, sich Sorgen zu machen. Nach ein paar Tagen traf er auf eine Weide und kam mit ihr ins Gespräch: „Aus dem Norden komme ich und meine Wurzeln sammeln nicht mehr genug Wasser“, klagte der kleine Baum. „Dann ist es wohl Zeit zurückzukehren und dich wieder zu erden“, sagte die weise alte Weide und ging weiter. Fragend blickte der kleine Baum ihr hinterher.

Erst am nächsten Morgen machte es „klick“ und die Worte der Weide dämmerten bei dem kleinen Baum. Also verabschiedete er sich schweren Herzens von seinen neugewonnen Freunden und machte sich traurig, aber mit einem guten Gefühl, auf den Weg zurück. Die Liebe seiner Familie, die vertraute Luft und Umgebung taten Wunder. Bald sah der kleine Baum wieder frisch und munter aus. Dennoch fiel es ihm schwer, sich wieder anzupassen, da sein Traumleben tausende Kilometer südlich stattfand. Es war, als ob seine Seele noch am Meer hängen geblieben wäre.

Nach einiger Zeit kam der kleine Baum ein wenig zur Ruhe. Er hörte von den Vögeln, dass die Palmen einer Dürre ausgesetzt waren und selber ihre Herausforderungen hatten. Dann kamen ihm nochmal die Worte der alten Weide in den Kopf. Er solle sich wieder erden und verwurzeln. Ja, das ist es, verstand der kleine Baum plötzlich! Träume sind etwas Besonderes, wie ein Ort am Meer, den man immer wieder besucht. Doch der Herkunftsort war das, was den kleinen Baum verwurzelte und ihm Halt und Kraft gab. Dies war für den kleinen Baum der Schwarzwald mit seinem Nährboden, wo er wachsen und gedeihen konnte.

Als er diese Erkenntnis mit seiner Schwester teilte, fragte diese, ob seine Reise zu den Palmen dann umsonst war. „Oh nein ganz und gar nicht“, entgegnete der kleine Baum mit einem Lächeln, „es war wichtig, meinen Sehnsüchten nachzugehen. Damals war die Reise genau der Schritt im Leben, den ich brauchte, um heute diese Erkenntnis zu gewinnen. Zudem habe ich dadurch viel mehr gelernt als in vielen Jahren Schule. Außerdem hätte ich sonst nie die Erfahrung gemacht, dass es noch so viel mehr da draußen gibt und jeder Baum einzigartig mit seiner eigenen Geschichte und seinen eigenen Herausforderungen ist. Ich hätte nie die Magie des Lebens erfahren.“

Und so lebte der nicht mehr ganz so kleine Baum von nun an die meiste Zeit in seiner Heimat und genoss jeden Atemzug der frischen Waldluft. Er fing an, die nachfolgenden Generationen von Bäumen in der Schule zu unterrichten und sie vor allem darin zu bestärken, ihren Träumen zu folgen und ins Leben zu vertrauen. Nur hin und wieder, wenn ihn mal wieder die Sehnsucht überkam, machte sich der nicht mehr ganz so kleine Baum auf die Reise, um seinen Freunden, den Palmen, einen Besuch abzustatten und mal kurz etwas Meeresluft zu schnuppern.

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