Das „Superwahljahr“ 2019 birgt neben der Europawahl vor allem drei Landtagswahlen: In Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Alle drei Bundesländer waren einst Teil der DDR. Die rechtspopulistische AfD gilt in diesen Bundesländern als Konkurrent für die amtierenden Regierungen. Städte wie Dresden, Chemnitz, Cottbus oder Köthen sind synonym für Hochburgen und Austragungsorte etablierter rechtsextremer Bürger_innenbewegungen (vgl. Rippl et al. 2018: 44). In Gesellschafts- und Demokratiedebatten gilt dies vielen als Beweis vor allem für eins: Der demokratisch gewählte Osten Deutschlands ist auch nach bald 30 Jahren Wiedervereinigung immer noch Sinnbild des autoritäreren Teils der deutschen Nachkriegsidentität. Eine Feststellung, die in Ostdeutschland vor allem als eine westdeutsche Erkenntnis wahrgenommen wird: ein Exkurs in die deutsch-deutsche Identitätsdebatte.
Der Osten – eine unhaltbare Typologie?
Die Thematisierung des Ostens im Kontrast zu dem Westen ist an sich bereits der erste Gegenstand dieser Betrachtung: Was ist der Osten und was ist der Westen? Es handelt sich vorerst um geographische, ökonomische, historische und soziale Einheitsdimensionen, deren Entstehung Teil eines wechselwirkenden Systemkonflikts – des Kalten Krieges – waren. Die Begriffe wurden umgangssprachlich im Kontext ihrer groben kulturell sozialisierten Eigenarten verwendet. Zwei Idiome, die aber mittlerweile seit 29 Jahren Teil der gleichen Gesellschaft sind. Ist das heutige Sprechen über die diffusen Entitäten Ost und West nicht ein anachronistischer Akt, der Gefahr laufen kann, ein stereotypisches Schisma aus einer anderen Zeit aufrecht zu erhalten? Diese Frage ist gleichzeitig zu bejahen und zu verneinen.
Struktur des föderalen Selbstverständnisses
Der föderale Staat Deutschland besteht im Jahr 2019 aus 16 Bundesländern mit regional-historisch gewachsenen Identitäten. So finden sich in den Bundesländern unterschiedlich geprägte Regionen hinsichtlich ihrer strukturellen, religiösen und sozialen Dimensionen. Trotz dieser Heterogenität ist den neuen wie auch den alten Bundesländern gemein, dass in ihnen gesellschaftliche bzw. regionale Konflikte existieren. Um es zu verdeutlichen: Nordrhein-Westfalen ist nicht Bayern, genauso wenig wie Brandenburg Sachsen ist. In den alten Bundesländern werden ebenfalls rechtspopulistische Parteien und Bürger_innenbündnisse gewählt und gegründet. Parteien wie die NPD (1964), Republikaner (1983) und DVU (1987) entstanden alle in der Bonner Republik (vgl. Decker 2007: 12f.). Dennoch waren die Wahlergebnisse der Bundestagwahl 2017 eindeutig: In den Ländern Sachsen (25,4%), Sachsen-Anhalt (16,9%), Thüringen (22,5%), Brandenburg (19,4%) und Mecklenburg-Vorpommern (18,2%) erhielt die AfD die höchsten Stimmenanteile bundesweit (vgl. Bundeswahlleiter 2019). Kann diese Wahltendenz als Beweis für eine anhaltende Trennung der politischen Kultur aufgrund der geteilten deutsch-deutschen Vergangenheit angesehen werden?
Vergleichbare Gesellschaftskonflikte wurden bereits in den 1970ern durch die Cleavage-Theorie in der Wahlforschung untersucht. Seymour Lipset und Stein Rokkan begründeten diese makrosoziologische Analyse anhand gesellschaftlicher Cleavages (Spaltungen) wie Stadt/Land, Arbeit/Kapital, Kirche/Staat sowie Zentrum/ Peripherie (vgl. Schmitt-Beck 2007: 252f.) und überprüften, inwieweit strukturelle Faktoren das Wahlverhalten beeinflussten und erklärten. Insbesondere die Grundsatzkonflikte Arbeit/Kapital sowie Zentrum/Peripherie können Aufschlüsse über die Bedingungen für das Wahlverhalten in den neuen Bundesländern liefern.
Protest der Prekarisierten?
Das Thema Rechtsextremismus im Osten wird häufig als ein Resultat verschiedener Faktoren gesehen, die nach der verheißungsvollen postsozialistischen und demokratischen Wende ein strukturelles Defizit in den neuen Bundesländern erzeugten: Objektive Deprivation durch Deindustrialisierung und damit verbundene höhere Arbeitslosenzahlen (vgl. Martens 2010a), ausbleibende Lohnangleichung (vgl. Thüringen-Monitor 2017: 25; 198) und ein „Elitenaustausch“ von Westdeutschen in ostdeutsche Entscheidungspositionen (vgl. Vogel 2017: 45f.). Daraus resultierte gleichzeitig eine starke Abwanderung junger qualifizierter Menschen – vor allen von Frauen – in die alten Bundesländer (vgl. Martens 2010b).
Die Bilder „posttraumatischer“ Städte mit rechtsextremen Aufmärschen wie in Bautzen und Hoyerswerda, geben der innerdeutschen Identitätsdebatte eine scheinbar offensichtliche Erklärung für rechtes Gedankengut: Soziale Deprivation und Perspektivlosigkeit führen dazu, dass prekäre Milieus rechte Parteien wählen. Diese Erklärung gilt in der Rechtsextremismusforschung in Deutschland durchaus als ein relevanter Faktor für das Wählen dieser Parteien: Sie ist aber nicht als ein spezifisches Ost– oder Westphänomen zu verstehen. So haben prekäre Milieus wie auch Milieus, die der sozialen Mittelschicht zuzuordnen sind, in großen Teilen die AfD gewählt, was eine Verringerung der messbaren sozialen Spaltung zwischen Einkommensgruppen anzeigt (vgl. Vehrkamp/Wegschaider 2017: 17f.).
Der blinde Punkt der strukturellen Diskrepanz
Seit 1989 haben die neuen Bundesländer teils starke wirtschaftliche und finanzielle Entbehrungen erleiden müssen. Die wirtschaftliche Rehabilitierung ist trotz hoher Stagnationsraten in den meisten dieser Länder dennoch vorangeschritten – auch wenn sie immer noch teilweise weit hinter den alten Bundesländern zurück liegen (vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2019). Langzeitstudien wie beispielsweise des Thüringen-Monitors haben ermittelt, dass die Zufriedenheitswerte bei der gesamtgesellschaftlichen und persönlichen Einkommensstruktur der Befragten in Thüringen zwischen 73% und 93% liegen (vgl. Thüringen-Monitor 2017: 60f). Zu ähnlichen Ergebnissen kommen neuere Studien wie der vergleichbare Sachsen-Monitor (vgl. Sachsen-Monitor 2018: 14ff.). Gleichzeitig bewerten große Teile dieser Befragten aber eine Unzufriedenheit und Deprivation in Relation zu den alten Bundesländern. Eine scheinbar kollektiv empfundene Abwertung, die nicht zwangsläufig mit persönlicher Einkommens- und Wirtschaftszufriedenheit korrelieren muss.
Ostdeprivation
„Unter Ostdeprivation wird eine negative Bewertung der deutschen Einheit sowie die Einschätzung, Westdeutsche behandelten Ostdeutsche als „Menschen zweiter Klasse“, verstanden.“ (Thüringen-Monitor 2017: 81)
Die soziale Deprivation ist somit als einzelne Ursachenerklärung für das Wahlverhalten in den neuen Bundesländern nicht ausreichend. Ein weiterer Faktor ist das negative politische Fazit und der Umgang mit vielen dieser Menschen nach der Auflösung der DDR. Denn mit der Friedlichen Revolution sahen viele Bürger_innen der damaligen DDR die Chance auf eine gemeinsame Neubestimmung mit der damaligen Bundesrepublik. Diese „Prä-Wende-Generation“ hat nach der Wiedervereinigung eine kollektive Abwertung durch die bundesdeutsche Mehrheitsgesellschaft erfahren. Als „Migrant_innen“ eines gescheiterten autokratischen Staates, dessen Zivilgesellschaft ein defizitäres Verhältnis zur Demokratie aufweisen sollte, wurden die Ostdeutschen als rückständig betrachtet und waren angehalten sich in die bundrepublikanische Gesellschaft zu integrieren (vgl. Kubiak 2018: 27ff.). In den frühen 1990er Jahren waren die Abwertungserfahrungen gegenüber Ostdeutschen vergleichbar mit den xenophoben Ressentiments gegenüber Migrant_innen (vgl. Pates/Schochow 2013). Sinngemäß des Cleavage Zentrum/Peripherie lagen die finanziellen Ressourcen und politische Deutungshoheit im Zentrum – der alten BRD – und die neuen Bundesländer in der Peripherie.
Mit der Rolle der symbolischen Ausländer, den tradierten Stereotypen aus den Zeiten der Blockrivalität, der ökonomischen Disparität sowie dem allgemeinen Wegfall der sozialen Ordnung und ideologischen gesellschaftlichen Norm, resümierten viele Menschen eine kollektive Negativbilanz und Fremdheitsgefühle, die in Teilen bis heute noch anhalten.
Deutsch = Westdeutsch?
Mit Hinblick auf die Wiedervereinigung wurde das Narrativ einer gemeinschaftliche Neugründung Deutschlands für viele Menschen in den neuen Bundesländern somit lediglich formal durchgeführt. In Umfragen antworten überdurchschnittlich viele Menschen in diesen Bundesländern auf die Frage ihrer Nationalität, dass sie sich zuerst als Ostdeutsche und dann als Deutsche verstehen würden (vgl. Klein 2014: 196; Förster 2003). Wenn Ostdeutsch ungleich Deutsch ist, dann lässt es Raum zur Annahme, dass für Menschen mit einer Ostdeutschen Identität, das was aktuell unter Deutsch verstanden wird, als Westdeutsch bewertet wird. Eine Wahrnehmung, die laut dem Soziologen Daniel Kubiak als Erzählung auch in die Post-Wende-Generation übertragen wird (vgl. Kubiak 2018: 31). Diese Ostdeutsche-ex negativo-Identität wird vor allem in gesellschaftlichen Debatten über autoritäre Phänomene wirksam. Die anhaltende Abgrenzung oder auch „Othering“ (ebd.: 25) der Ostdeutschen ist nicht nur Teil der sprachlichen Fortführung von Stereotypen und Klischees aus dem deutsch-deutschen Konflikt: Sie dient gleichzeitig als Beleg für eine Projektionsfläche des Autoritären im Anderen. Ganz nach dem Prinzip: „So wie DIE sind WIR Deutschen nicht!“ (Klein 2014: 53), offenbart sich ein westdeutscher Chauvinismus, dessen Selbstverständnis Rechtsextremismus und autoritären Nationalismus durch die Staatsgründung der BRD hinter sich gelassen haben will. Die BRD sei durch das reflektierte Staatswesen – in Form der Erinnerungskultur – und demokratischer Kultur immun gegen einen gesamtgesellschaftlichen Autoritarismus. Das „bessere“ Deutschland sah die Autoritären demnach immer im Anderen: In den Nationalsozialisten, in politischen Gruppen des Äußeren Randes und im sozialistischen Nachbarstaat. Eine Haltung, die eine selbstkritische Reflexion trüben kann und eine Stigmatisierung der neuen Bundesländer aufrechterhält. Das kollektive Gefühl der mangelnden Anerkennung von politischen Leistungen wirkt bis in die heutige Protestkultur in den neuen Bundesländern. Denn wie eingangs erwähnt, ist die einzige friedliche Revolution in der deutschen Geschichte von den Bürger_innen der DDR ausgegangen (vgl. Richter 2018: 30). Die Protestrufe „Wir sind das Volk!“ werden in einer anlehnenden Tradition an den Topos der Friedlichen Revolution von 1989 skandiert.
Die Wahrnehmung vom Osten Deutschlands, als Sinnbild einer autoritären Gesellschaftsdisposition, führt zu einer Verhärtung tradierter gesellschaftlicher Konfliktlinien, die durch eine unterschiedlich stark ausgeprägte strukturelle Disparität gefördert wird. Dennoch darf man die etablierten rechtsextremen Strukturen und Parteien deswegen nicht relativieren. Strukturell sind sie im Querschnitt der Gesellschaft vertreten. Aber sie bedienen Narrative der Enttäuschung und missbrauchen ostdeutsche Demokratietradition. In der deutsch-deutschen Identitätsdebatte ist die Beschäftigung mit den Befindlichkeiten und gesellschaftlichen Einbindung der Menschen in den neuen Bundesländern ein relevantes Thema, um gegen autoritäre Gesellschaftsstrukturen vorzugehen. Die politischen Einstellungen und Orientierungen müssen immer wieder neuverhandelt werden, um eine Angleichung der politischen Kultur künftig weiter zu befördern (vgl. Jesse 2014: 294). Die Persistenz von Entfremdungsgefühlen und Vorurteilen können nur durch eine kontinuierliche Auseinandersetzung im innerdeutschen Dialog aufgelöst werden.
Quellen
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