Cynefin Framework
Das Cynefin (gesprochen ku-nev-in) Framework ist eine Organisations- und Managementstrategie für das Verständnis sowie die Entscheidungsfindung innerhalb komplexer Systeme (vgl. Snowden/Boone 2007). Entwickelt von Snowden und Boone (2007), war das ursprüngliche Ziel des Frameworks, Führungskräften zu ermöglichen, neue Perspektiven einzunehmen, den Kontext, in dem sie arbeiten, zu verstehen sowie reale Probleme anzugehen. Das Wort „Cynefin“ stammt aus dem Walisischen und beschreibt unser mangelndes Verständnis über den Einfluss vielfältiger Faktoren unserer Umgebung und unserer Erfahrungen (vgl. Snowden/Boone 2007). Heute wird das Framework in verschiedenen Bereichen angewandt, wie beispielsweise in der Gestaltung und Planung von Infrastrukturen (vgl. Helmrich/Chester 2020, Chester/Allenby 2019, siehe Tabelle 1) oder im Hinblick auf die Ingenieurausbildung (vgl. Hadgraft/Kolmos 2020). Grundsätzlich soll das Framework ermöglichen, einen Kontext, ein System oder ein Problem, in dem operiert wird, zu beschreiben sowie damit verbundene Lösungsstrategien zu definieren.
Das Framework beschreibt insgesamt vier wesentliche Entscheidungsbereiche oder -kontexte (siehe folgende Seiten), in die sich Themen, Systeme oder Probleme einteilen lassen (vgl. Snowden/Boone 2007): Simple/Obvious, Complicated, Complex, Chaotic.
Die Einteilung basiert dabei auf der Art der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, woraus folgend ein Verhalten analysiert werden kann und Entscheidungen getroffen werden können (vgl. Lowe et al. 2022).
Simple/Obvious
Die Domäne der Best Practice. Hier gibt es eine klare Ursache-Wirkung-Beziehung, die eine – häufig offensichtliche – Lösung aufzeigt (vgl. Helmrich/Chester 2020, Snowden/Boone 2007). In diesem Bereich sind alle Informationen bekannt (known knowns), die notwendig sind, um eine Entscheidung zu treffen. Entscheidungsträger*innen müssen damit die Fakten der Situation bewerten (sense), diese organisieren (categorize) und basierend auf bewährten Praktiken reagieren (respond).
Complicated
Die Domäne der Experts. Ursache-Wirkung-Beziehungen sind nicht – für jede Person – erkennbar und es kann mehr als eine richtige Antwort oder Lösung geben (known unknowns). Probleme können jedoch mit Fachwissen gelöst werden. Expert*innen müssen hier ebenfalls zunächst das Problem sowie zugrundeliegende Fakten erkennen und bewerten (sense) und auf dieses reagieren (respond). Aber statt die verschiedenen Möglichkeiten zu kategorisieren, müssen diese analysiert (analyze) werden (vgl. Helmrich/Chester 2020, Snowden/Boone 2007).
Complex
Die Domäne der Emergence. In diesem Bereich ist nicht klar, ob es eine gute bzw. sinnvolle Lösung für ein Problem oder eine Situation gibt, da nicht alle Informationen bekannt sind (unknown unknowns). Dieser Bereich ist vor allem durch Unvorhersehbarkeit gekennzeichnet, weshalb kreative und innovative Lösungen im Vordergrund stehen (vgl. Helmrich/Chester 2020, Chester/Allenby 2019). Entscheidungsträger*innen müssen hier zunächst verschiedene Optionen erforschen (probe), dann die Fakten der jeweiligen Option bewerten (sense), um anschließend reagieren (respond) zu können. Der Klimawandel, zukünftige Technologien sowie Infrastrukturen, wie urbane Räume, fallen in diesen Bereich (vgl. Chester/Allenby 2019, Hadgraft/Kolmos 2020, Helmrich/Chester 2020).
Chaos
Die Domäne der Rapid Response. Ursache-Wirkungs-Beziehungen sind hier unmöglich zu bestimmen (unknowables), da sich diese basierend auf einem hohen Grad an Turbulenz ständig ändern (vgl. Snowden/Boone 2007). Es gibt auch keine Zeit, nachzudenken (vgl. Helmrich/Chester 2020, Snowden/Boone 2007). Chaotische Situationen sind häufig die Ergebnisse einer Katastrophe, beispielsweise einer Überschwemmung (vgl. Hadgraft/Kolmos 2020, Chester/Allenby 2019 – siehe auch den Beitrag zu „Mutual Aid“). Hier besteht zunächst akuter Handlungsbedarf (act), um die Situation zu stabilisieren, sodass erst dann die Fakten bewertet werden können(sense) und darauf reagiert werden kann (respond).
Disorder
Die fünfte Domäne (Unordnung) kommt dann zum Tragen, wenn Entscheidungsträger*innen nicht wissen, in welcher der vier Domänen sie agieren.
Tabelle 1: Beispiel – Cynefin Framework bei der Planung von Infrastrukturen in Bezug auf das Klima (übersetzt nach Helmrich/Chester 2020)
Domäne | Klimaszenario | Infrastruktur |
Simple | Erkennen des aktuellen Wetters | Verwaltung des täglichen Betriebs, z.B. kein Betrieb von Flugzeugen bei extremer Hitze |
Complicated | Extrapolation historischer Klimamuster | Festlegung von Parametern, z.B. Normen für die Bemessung von Regenfällen für Wasserinfrastruktur |
Complex | Analyse von vorhergesagten Klimaszenarien | Entwicklung einer Infrastruktur, die mit Unvorhersehbarkeit umgehen kann (z.B. Planung für Ausfälle) |
Chaos | Ein Extremwetterereignis erleben | Reagieren auf ein Ereignis, ohne alle Informationen zu kennen, z. B. sofortige Reaktion auf einen Hurricane der Stufe 5 |
Literatur
Chester, M.; Allenby, B. (2019): Infrastructure as a wicked complex process. In: Elementa Science of the Anthropocene, 7(21).
Hadgraft, R.; Kolmos, A. (2020): Emerging learning environments in engineering education. In: Australasian Journal of Engineering Education, 25(1). S. 3–16.
Helmrich, A.; Chester, M. (2020): Reconciling complexity and deep uncertainty in infrastructure design for climate adaptation. In: Sustainable and Resilient Infrastructure, 7(2). S. 83–99.
Lowe, D.; Goldfinch, T.; Kadi, A.; Willey, K.; Wilkinson, T. (2022): Engineering graduates professional formation: the connection between activity types and professional competencies. In: European Journal of Engineering Education, 47(1). S. 8–29.
Snowden, D.; Boone, M. (2007): A Leader’s Framework for Decision Making. In: Harvard Business Review, November 2007. S. 69–76.