Chaos, wo noch nichts war

„Tohuwabohu“ ist im deutschen Sprachraum ein bekannter und häufig verwendeter Begriff, der meist in Kontexten zur Anwendung kommt, in denen Chaos wahrgenommen wird. Der Duden erklärt dessen Wortbedeutung mit entsprechenden Synonymen, wie einem „völligen Durcheinander“ und „Wirrwarr“ (Bibliographisches Institut 2022). Über den Ursprung und damit auch der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs besteht jedoch wenig prominentes Wissen, birgt er weitaus mehr Potenzial in sich als die schlichte Beschreibung eines chaotischen Zustands. Im Folgenden gilt es die genannten Lücken zu füllen und mehr über den etymologischen Hintergrund zu erfahren.

 

Das Wort stammt ursprünglich aus dem Althebräischen und bildet ein Wortpaar: Tohuwabohu (תהו ובהו) ist in seiner sprichwörtlichen Bezeichnung zusammengesetzt aus tōhū und wā-bōhū; ersteres (tōhū – תהו) umfasst in seiner Bedeutung „eine Bandbreite von ‚nichts‘ bis hin zu ‚Wüste‘“ (Fischer 2018: 127), zweiteres (bōhū – בהו) tritt ausschließlich in Kombination mit tōhū auf und „dürfte ebenso einen Mangel besagen“ (ebd). Eine getreue Übersetzung dieser Konstruktion ist schwerlich möglich (vgl. Görg 2001: 895) und dementsprechend zahlreich sind die Bedeutungswiedergaben: von „öde und leer“ zu „wüst und wirr“ als auch „öde Wüste“ und „ein Nichts und Gar-Nichts“ (Fischer: ebd).

 

Bisher geben diese Übersetzungen wenig Aufschluss über die Bedeutung von Tohuwabohu, insbesondere sein Bezug zum Chaos lässt sich aus der Vorstellung von Ödnis, Leere oder gar schlichtem Nichts nicht ableiten. Sachdienlich für ein besseres Verständnis ist die Erweiterung des Fokus auf den umliegenden Kontext, einfach gefragt: Wo tauchte der Begriff erstmalig auf?

 

In Genesis (Gen) – dem ersten Buch der jüdischen Tora und auch das erste Buch der christlichen Bibel – steht zu Anfang die Schöpfungserzählung, in welcher Tohuwabohu in Gen 1,2 zur Beschreibung des Zustandes der Erde aufgeführt wird; da heißt es: „Die Erde war wüst und wirr […]“ (Gen 1,2). Die Autorengruppe des Textes, die sich aus Personen der jüdischen Priesterkreise zusammensetzte, schaffte mit diesem konstruierten Ausdruck die Vorstellung eines Vor-Welt-Zustands, wie sie in ähnlicher Weise unter anderem in ägyptischen Kosmogonien – also Lehren über die Entstehung des Universums – auftritt (vgl. Nelis 1968: 285). Diese Art der Präexistenz beschreibt Jan Assmann wie folgt:

 

„Das Mysterium der Präexistenz erfährt viele Ausgestaltungen. Diese[r] […] wird ein vorweltliches Ambiente beigegeben, ein Ur-Chaos, das man sich lichtlos, endlos, formlos vorstellt. Das Chaos ist nach ägyptischer Vorstellung kein Nichts, kein gähnender Abgrund (wie das griechische Wort ‚Chaos‘ es ausdrückt), sondern ein Urschlamm voller Keime möglichen Werdens.”


Davon inspiriert, wird auf Textebene der jüdisch-christlichen Schöpfungserzählung ein ähnliches Narrativ konstruiert, das im Wort Tohuwabohu seine sprachliche Gestalt erfährt. Dieser Vor-Welt-Zustand, das Tohuwabohu, markiert chaotische, ungeordnete und lichtlose Verhältnisse
innerhalb einer Leere; der schöpferische Akt steht in der Erzählung noch bevor.


Nach heutigem Verständnis wirkt die Charakterisierung eines leeren Raums als chaotisch fast widersprüchlich, gar paradox. Wie kann etwas chaotisch sein, wo noch nichts ist? Um dieser Frage in adäquater Form zu begegnen, gilt es die Perspektive der
jüdischen Autorengruppe in den Blick zu nehmen, die in Anlehnung an bereits
bestehende Kosmogonien der antiken Welt eine eigene formulierte. Denn anders
als das Chaosverständnis im angeführten Beispiel ägyptischer Kosmogonie, die in
der Vorstellung eines pulsierenden und bereits vor Leben strotzendem Urschlamms
ein Chaos manifestiert sieht, zeigt es sich in der jüdisch-christlichen
Kosmogonie als Verneinung von Ordnung. Johannes Nelis erläutert dazu: 


„Bei dieser Beschreibung geht der priesterliche Denker vom heutigen Kosmos aus. Vom Begriff dieses Kosmos löst er nun alles, was ihm entsprechend Ordnung und Vollkommenheit ausmacht, um dadurch unter Verwendung der damals gebräuchlichen kosmogonischen Begriffe zu dem Punkt zu kommen, wo Gottes schöpferische Aktivität eingegriffen hat.”

 

Die Rolle des Begriffs Tohuwabohu wird damit eindeutig bestimmt: Innerhalb des Erzähltextes setzt er einen kontrastierenden Marker; weniger steht die Beschreibung des Chaos im Vordergrund als die im Begriff zu entstehende Ordnung. Damit fungiert er auf sprachlicher Ebene als Startpunkt, ab welcher der Text die im Fokus liegende Schöpfungshandlung entfaltet.  Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn das vorweltliche Nichts als wüst, öde und leer bezeichnet und damit negativ konnotiert wird. Eine Absicht des Textes besteht unter anderem darin, in der Kontrastierung zum Urchaos eine hoffnungsvolle Perspektive zu eröffnen, die in der Fülle des Lebens ihren Höhepunkt erreicht.

 

Mit welcher Konnotation der Begriff Tohuwabohu heutzutage versehen wird, unterscheidet sich damit nicht unwesentlich von seiner ursprünglichen Bedeutung. Diese vermag dennoch inspirierend nachzuhallen, kann Chaos offensichtlich auch in der Leere bestehen und notwendiger Nährboden für Ordnung sein. 

Literatur

Assmann, J. (2003): Kosmogonie, Schöpfung und Kreativität im Alten Ägypten. In: Krüger,
O.; Sariönder, R.; Deschner, A. (Hg.): Mythen der Kreativität. Das
Schöpferische zwischen Innovation und Hybris. Frankfurt: Otto Lembeck. S. 21–36.

Bibliographisches
Institut (Hg.) (2022): Tohuwabohu. In: Duden. Online verfügbar unter:
https://www.duden.de/node/183234/ revision/595601 [27.05.2022].

Fischer, G. (2018): Genesis 1-11 (HThKAT). Freiburg: Herder.

Görg, M. (2001): Tohuwabohu. In: Görg, M.; Lang, B. (Hg.): Neues Bibel-Lexikon. Bd. 3. Düsseldorf: Benzinger. S. 895–896.

Nelis, J. (1968): Chaos. In: Haag, H. (Hg.): Bibel-Lexikon. 2. Auflage. Einsiedeln: Benzinger. S. 284-286.

Verwendete Bibelfassung: Bischöfe Deutschlands, Österreichs, der Schweiz et al. (Hg.) (2017): Die Bibel. Einheitsübersetzung. Freiburg: Herder.

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