Naturgewalten sind unberechenbar, chaotisch, beängstigend, zerstörerisch – sie können uns die eigene Vergänglichkeit und physische Schwäche vor Augen führen. Zugleich ist die chaotische Natur in ihren vielen Erscheinungsformen auch eine Quelle für ästhetische Erfahrungen: Reißende Fluten, Wasserfälle, abgrundtiefe Schluchten oder der bestirnte Himmel erfüllen uns mit Ehrfurcht und lassen uns über die Schönheit und Unergründlichkeit der Natur staunen. Auch wenn wir bedrohlichen Naturschauspielen nur als Betrachtende beiwohnen und ihnen nicht hilflos ausgeliefert sind, fühlen wir dennoch ihre zerstörerische Kraft, die uns von einem Moment auf den anderen auslöschen könnte. In dieser Spannung liegt das Moment, das in der Ästhetik das Erhabene genannt wird: Im Angesicht der majestätischen Natur, ihrer Schönheit und unendlichen Weite, versinkt der Mensch in einen ehrfürchtigen und kontemplativen Zustand – weit weg von alltäglichen Gefühlen und Gedanken. „Der Anblick unbegrenzter Fernen und unabsehbarer Höhen, der weite Ozean zu seinen Füßen, und der größere Ozean über ihm, entreißen seinen Geist der engen Sphäre des Wirklichen […]“ (Schiller 1801: 400) – so schreibt Friedrich Schiller in seiner Abhandlung „Über das Erhabene“.
Bereits in der Antike ist das Gefühl des Erhabenen für die Dichtkunst von großer Bedeutung: Das Pathos des gescheiterten Helden in der griechischen Tragödie soll die Zuschauenden in einen emotionalen Zustand der Ergriffenheit versetzen, ohne dass sie sich in einer unmittelbar bedrohlichen Situation befinden. Die Darstellung der erhabenen Natur wird besonders in den Kunstwerken der Romantik programmatisch: Das berühmte Gemälde „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ (1818) von Caspar David Friedrich zeigt eine Berglandschaft, umhüllt von undurchsichtigen Nebelschleiern, und einen Wanderer, der als subjektiver Betrachter aufrecht und stolz auf einem emporstehenden Felsen steht. Der Wanderer vermittelt das Bild des vernunftbegabten Menschen, der sich trotz seiner physischen Unterlegenheit über die chaotische Natur erhebt. Im Angesicht der „geistreichen Unordnung“ (ebd.) einer Naturlandschaft gelangt der Mensch in eine gedankliche Versunkenheit, die seine sinnliche Wahrnehmung übersteigt und durch die er sich seiner reinen Vernunft gewahr wird:
„[...] kaum entdeckt er in dieser Flut von Erscheinungen etwas Bleibendes in seinem eigenen Wesen, so fangen die wilden Naturmassen um ihn herum an, eine ganz andere Sprache zu seinem Herzen zu reden: und das relativ Große außer ihm ist der Spiegel, worin er das absolut Große in ihm selbst erblickt."
(ebd.)
Die Spannung zwischen der chaotischen Natur und dem Menschen als Vernunftwesen, das sich über diese erheben will, ist auch das zentrale Thema in Mary Shelleys weltbekanntem Schauerroman „Frankenstein“ (1818). Der Wissenschaftler Victor Frankenstein versucht, die Naturgesetze zu überwinden – er will über Leben und Tod herrschen und wird zum Schöpfer einer aus leblosen Körperteilen zusammengesetzten Kreatur, die er durch seine wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Leben erweckt. Erschrocken von der Hässlichkeit seiner Kreatur wendet er sich jedoch von ihr ab und verstößt sie. Verzweifelt sucht der Wissenschaftler Trost in den Weiten der Natur: Umgeben von einer Schneelandschaft, Gletschern, tiefen Schluchten und Nebel, wandert er eines Tages einsam in den Alpen umher. Im Angesicht der überwältigenden Natur fühlt er die Unbedeutsamkeit und Vergänglichkeit des menschlichen Seins, denn schon kleine Veränderungen können in einer friedlich anmutenden Schneelandschaft unvorhersehbare, zerstörerische Ereignisse auslösen, die den Menschen ins Verderben stürzen: „as the slightest sound, such as even speaking in a loud voice, produces a concussion of air sufficient to draw destruction upon the head of the speaker.“ (Shelley 1818: 68) Überwältigt von der Anmut der ihn umgebenden Landschaft und verzweifelt über sein Schicksal, überkommt Frankenstein eine Sehnsucht nach dem Göttlichen: „Wandering spirits, if indeed ye wander, and do not rest in your narrow beds, allow me this faint happiness, or take me, as your companion, away from the joys of life.“ (ebd.: 69) Im Angesicht der endlosen Natur kann der Mensch nicht nur zum betrachtenden Gegenüber werden, wie es der Wanderer in Friedrichs Gemälde suggeriert, er kann auch den Wunsch nach Zugehörigkeit verspüren und sich als Teil dieser göttlichen Welt begreifen.
Frankensteins spirituelle Naturerfahrung endet abrupt, als er das hässliche Antlitz seiner Kreatur erblickt, die im Bergmassiv plötzlich vor ihm in Erscheinung tritt. Sie hat sich auf die Suche nach ihrem Erschaffer gemacht, und nun konfrontiert sie ihn mit der Verantwortung, die er für seine Schöpfung trägt – eine Schöpfung, die dazu verdammt ist, als Verstoßener in dieser Welt zu weilen. Frankensteins Versuch, über die Natur zu herrschen und sie kontrollieren zu können, ist gescheitert: Seine Schöpfung ist außer Kontrolle geraten und hat seine Welt ins Chaos gestürzt, denn die Kreatur versucht nun eigenmächtig, ihren Platz in der Welt zu finden und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Doch dabei scheitert sie, wird verstoßen, verzweifelt, tötet.
Die Spannung zwischen Mensch und Natur, die Ambivalenz seiner Gefühle – Erstaunen, Ehrfurcht, Angst, Schwäche – und sein Bestreben, sich über die Natur zu erheben, ist seit jeher Stoff künstlerischer Verarbeitungen. Denn die Frage, in welcher Beziehung wir Menschen zu der uns umgebenden chaotischen Welt stehen und welche Rolle wir ihr gegenüber einnehmen sollen, ist schon immer eines der größten Menschheitsthemen gewesen.
Literatur
Schiller, F. (1801): Über das Erhabene. In: Netolitzky, R. (Hg.): Friedrich Schiller. Gesammelte Werke in fünf bänden. Bd.5: Schriften zur Kunst und Philosophie. Gütersloh: Bertelsmann 1955. S. 391–407.
Shelley, M. (1818): Frankenstein. Or the modern Prometheus. Oxford: Oxford University Press. 3. Auflage 2019.