Biodiversitätsverlust

„Again and again, in season or out of season, the question comes up, ‘what are rattlesnakes good for?’ as if nothing that does not rightly make for the benefit of man had any right to exist” (Muir 1916: 98–99)

Der World Risk Report, in dem Entscheidungsträger*innen aus Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft Risiken für die Menschheit bewerten, schätzt den Verlust an Biodiversität als viertgrößtes Risiko innerhalb der nächsten zehn Jahre ein (vgl. WEF 2023). Der Schutz der Biodiversität ist als Ziel im Rahmen der Sustainable Development Goals (SDGs) und der UN Convention on Biological Diversity (CBD) festgeschrieben (vgl. UN 1992, 2015). Welche globalen Folgen ein Rückgang von Biodiversität hat, ist schwierig zu prognostizieren. Die Intergovernmental Science-policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES) definiert Biodiversität als

[…] variability among living organisms from all sources including terrestrial, marine and other aquatic ecosystems and the ecological complexes of which they are a part. This includes variation in genetic, phenotypic, phylogenetic, and functional attributes, as well as changes in abundance and distribution over time and space within and among species, biological communities and ecosystems. (IPBES 2019: 1033)

Anhand dieser Definition lässt sich ein weltweiter Rückgang von Biodiversität quantitativ abschätzen. Etwa 25% der Spezies sind aktuell vom Aussterben bedroht (siehe Abbildung 1), natürliche Ökosysteme durchschnittlich um 47% geschrumpft. Die genetische Diversität wilder Spezies ist, insbesondere in stark von Menschen beeinflussten Regionen, seit Mitte des 19. Jahrhunderts um circa 6% gesunken (vgl. Leigh et al. 2019). Die Menge wildlebender Säugetiere ist seit Beginn der Menschheitsgeschichte um 82% zurückgegangen. Zwar sterben auch ohne menschlichen Einfluss Arten aus, doch die Geschwindigkeit des aktuellen Artensterbens ist mindestens hunderte Male höher als der Durchschnitt der letzten zehn Millionen Jahre und beschleunigt sich weiter. (vgl. IPBES 2019)

Dabei muss beachtet werden, dass Ökosysteme von komplexen Wechselwirkungen zwischen einer Vielzahl von Lebewesen geprägt sind. Der Rückgang einzelner Arten kann das gesamte Ökosystem aus der Balance bringen und das Aussterben anderer Arten nach sich ziehen (vgl. IPBES 2019). Mangelnde genetische Vielfalt wiederum macht Spezies anfälliger für sich ändernde Umweltbedingungen und kann so ebenfalls ein Artensterben bewirken. Ein Verlust von Biodiversität kann also einen weiteren Verlust von Biodiversität zur Folge haben. (vgl. ebd.) Doch was sind konkret die Auswirkungen dieses Rückgangs, sowohl für die Menschheit als auch für die Natur insgesamt?

Dass Menschen einen natürlichen Zugang zu gereinigtem Trinkwasser und Nahrungsquellen haben, kann aus einer wirtschaftlichen Perspektive heraus als kostenlose Dienstleistung von Ökosystemen verstanden werden. Zu diesen Dienstleistungen zählen beispielsweise auch das Bestäuben von Nutzpflanzen durch Insekten oder die Schaffung von touristisch (nachhaltig) nutzbaren Attraktionen wie Korallenriffen. Der ökonomische Wert solcher Dienstleistungen wurde für 2011 auf 125–140 Billionen US-Dollar geschätzt. (vgl. OECD 2019) Das Welt-Bruttoinlandsprodukt lag im selben Jahr lediglich bei 70 Billionen US-Dollar (vgl. UNCTAD 2013), was verdeutlicht, dass die Menschheit, rein ökonomisch betrachtet, nicht in der Lage wäre, diese Dienstleistungen komplett selbst zu erbringen.

Die Bestäubung von Nutzpflanzen ist nicht nur ökonomisch relevant. Etwa 35% der weltweiten Feldfruchternte ist auf Bestäuber wie verschiedene Bienen-, Schmetterlings- und Vogelarten angewiesen. Diese Abhängigkeit der Landwirtschaft von Bestäubern steigt vor allem in Asien, Nordafrika und Südamerika, wobei auch die Zahl der kommerziell betriebenen Bienenstöcke wächst.  (vgl. IPBES 2016) Die westliche Honigbiene, die besonders häufig in kommerziellen Bienenstöcken als Bestäuber eingesetzt wird, verbreitet sich dadurch weltweit. Dabei ist sie in vielen Regionen eine invasive Art und verdrängt einheimische Bestäuber durch die Verbreitung von Krankheiten und Parasiten. Die unter anderem deshalb verringerte Biodiversität lokaler Bestäuberpopulationen senkt die Effektivität und Stabilität der Bestäubung von Wild- und Nutzpflanzen, was wiederum ein Risiko für die Ernährungssicherheit darstellt. Dabei wird diese in vielen Regionen bereits durch den Klimawandel gefährdet und durch die daraus resultierenden negativen Effekte auf einheimische Bestäuber zusätzlich bedroht. (vgl. ebd.)

Nicht nur die mangelnde Artenvielfalt der Bestäuber bedroht die Ernährungssicherheit. Auch, dass weltweit Feldfruchtarten mit geringer genetischer Vielfalt angebaut werden, senkt die in vielen Teilen der Welt bereits niedrige Zuverlässigkeit der Nahrungsversorgung (vgl. IPBES 2019). Der Anbau verschiedener Arten mit jeweils hoher genetischer Vielfalt bietet einen effektiven Schutz gegen die Ausbreitung von Krankheiten und Schädlingen (vgl. Hajjar et al. 2008). Ein Beispiel für die Risiken einer geringen Vielfalt von Genen und Arten in der Landwirtschaft ist das großflächige Aussterben der Bananensorte Gros Michel. Bis in die 1960er Jahre dominierte diese Sorte den Welthandel, doch die Verbreitung der durch den Fusarium-Pilz TR1 verursachten Panama-Krankheit zerstörte Bananenplantagen weltweit. Als Ersatz wurde die Cavendish Sorte angebaut, eine gegen TR1 resistente Neuzüchtung. Seither verbreitet sich die Panamakrankheit durch Fusarium TR4 global; gegen diesen Pilz ist Cavendish nicht resistent, weswegen an neuen Sorten geforscht wird. (vgl. Stokstad 2019)

Weiterhin kann ein Verlust an Biodiversität die Gesundheit der Bevölkerung negativ beeinflussen. In gestörten Ökosystemen könnten sich Parasiten besser vermehren und infolgedessen mehr Menschen mit Krankheiten infizieren. Die Studienlage zu diesem Thema ist allerdings nicht eindeutig; womöglich steigert eine erhöhte Biodiversität die Häufigkeit von Krankheitsübertragungen auf den Menschen sogar oder es besteht gar kein Kausalzusammenhang. (vgl. Rohr et al. 2020) Dass ein Verlust an Biodiversität und ein erhöhtes Auftreten von Zoonosen beim Menschen auf dieselben Ursachen zurückzuführen sind, ist jedoch unstrittig. Menschen verursachen den Klimawandel und einen Habitatverlust – zwei Effekte, die sich gegenseitig verstärken. (vgl. Bedenham et al. 2022) Unter beiden Effekten leidet die Biodiversität, da sich nicht alle Arten schnell genug an die veränderten Bedingungen anpassen können. Und auch die globale Verbreitung von Krankheiten sowie die Wahrscheinlichkeit (neuartiger) Zoonosen steigt im weiteren Verlauf des klimatischen Wandels und veränderter Landnutzung (vgl. IPBES 2020). Ein weiterer Zusammenhang zwischen Biodiversität und Gesundheit besteht in der Verwendung natürlicher Materialien, zum Beispiel aus Pflanzen, Tieren oder Pilzen, als Basis für Medizinprodukte, insbesondere in der traditionellen Medizin. Das Aussterben von Arten verhindert ihre medizinische Nutzung, wobei vor allem Menschen in ärmeren Regionen auf diese angewiesen sind (vgl. IPBES 2019). Doch auch moderne Medikamente haben mitunter ihren Ursprung in der Natur: 41% der von 2009 bis 2018 zugelassenen Medizinprodukte basieren direkt auf natürlichen Materialien, weitere 29% ahmen solche nach (vgl. Newman/Cragg 2020). Der Verlust an Artenvielfalt erschwert somit auch die Entwicklung neuer Therapien oder Medikamente.

Die bisher vorgestellten Folgen des Biodiversitätsverlusts beziehen sich ausschließlich auf das Wohlergehen von Menschen. Aber würde die Menschheit auch dann versuchen die Biodiversität zu bewahren, wenn ihr Verlust keine Auswirkungen auf sie hätte? Es gibt verschiedene philosophische und theologische Perspektiven zu dieser Fragestellung. Die bisher in diesem Artikel formulierten Argumente zum Schutz der Biodiversität entsprechen einer anthropozentrischen Weltsicht: Der Mensch steht im Mittelpunkt der Natur. Die Veränderung der Natur durch den Verlust von Biodiversität bedroht menschliches Leben und Wohlstand und muss deshalb verhindert werden. (vgl. UNESCO 2011) Eine Argumentation, die diesem Weltbild folgt, kann ein nützliches Instrument sein, um Menschen die Nachteile des Artensterbens vor Augen zu führen. Allerdings ist es eben dieses Weltbild, mit dem Menschen ihre umfangreichen negativen Eingriffe in die Natur erst legitimiert haben. Trockenlegung von Mooren für den Ackerbau, Pestizideinsatz und Massentierhaltung sind nur einige Beispiel dafür. (vgl. ebd.) Für einen nachhaltigen Umgang mit der Natur bedarf es entsprechend anderer Denkansätze.

Mit der Umweltbewegung der 1960er Jahre erlangte das Konzept des Biozentrismus an Aufmerksamkeit. Nach diesem verfügt jedes Lebewesen über eine Form von Würde, wobei der egalitäre Biozentrismus allen Lebewesen den gleichen Wert zuordnet. Ein alternativer Denkansatz ist der Ökozentrismus: Nicht der Wert der einzelnen Lebewesen wird betrachtet, sondern der des gesamten Ökosystems. Dieser Ansatz kann dazu beitragen, den moralischen Wert intakter Ökosysteme hervorzuheben und deren umfassenden Schutz zu begründen. (vgl. UNESCO 2011) Die Abkehr vom Anthropozentrismus findet sich auch im ersten Entwurf der CBD für ein zukünftiges Framework für globale Biodiversität wieder: Die Vision ist ein Leben in Harmonie mit der Natur (vgl. CBD 2022).

Diese moralische Umorientierung bezüglich des Verhältnisses von Mensch und Natur ist erforderlich, um dem Biodiversitätsverlust adäquat zu begegnen und auch in Zukunft verschiedenen anthropogen verursachten Umweltkatastrophen vorzubeugen. Die eigentliche Tragik eines Verlusts an Biodiversität sind also nicht nur die diskutierten Folgen, sondern der Verlust selbst.

CBD COP 15

Vom 7. bis 19. Dezember 2022 fand in Montreal die 15. UN-Biodiversitätskonferenz (CBD COP 15) statt. Die Abschlusserklärung beinhaltet neben vier übergeordneten strategischen Zielen, die bis 2050 zu erreichen sind (Goal A-D), auch 23 bis 2030 zu erreichende Ziele (Targets), von denen eine Auswahl beispielhaft aufgeführt wird:

  • Target 2: Mindestens 30% der weltweiten Fläche geschädigter Ökosysteme ist renaturiert.
  • Target 3: Mindestens 30% der weltweiten Land- und Meeresfläche sind unter Naturschutz gestellt.
  • Target 7: Die Verschmutzung von Ökosystemen durch alle Quellen soll auf ein unschädliches Maß reduziert werden, wobei die Auswirkungen durch Pestizide und Chemikalien mindestens halbiert werden soll.
  • Target 19: Um Länder des globalen Südens bei der Umsetzung zu unterstützen, erhalten diese jährlich 30 Milliarden USD von den Ländern des globalen Nordens. Insgesamt werden weltweit jährlich 300 Milliarden USD in den Schutz der Biodiversität investiert.

Um die Umsetzung zu kontrollieren, sind mit den Targets messbare Indikatoren verbunden. Dies entspricht einem Fortschritt zum COP 10 Rahmenvertrag (2010–2020), da die damaligen formulierten Ziele zum Artenschutz vergleichsweise unpräzise formuliert waren. Keines von ihnen wurde bis 2020 erreicht.

Literatur

Bedenham, G.; Kirk, A.; Luhano, U.; Shields, A. (2022): The importance of biodiversity risks: Link to zoonotic diseases. In: British Actuarial Journal, 27. S. e10

CBD Convention on Biological Diversity (2022): Kunming-Montreal Global biodiversity framework.

Hajjar, R.; Jarvis, D.; Gemmill-Herren, B. (2008): The utility of crop genetic diversity in maintaining ecosystem services. In: Agriculture, Ecosystems and Environment, 123.

IPBES Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (2016): Assessment Report on Pollinators, Pollination and Food Production.

IPBES Intergovernmental Science-policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (2019): The global assessment report on biodiversity and ecosystem services.

IPBES Intergovernmental Science-policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (2020): Workshop Report on Biodiversity and Pandemics.

Leigh, D.; Hendry, A.; Vazquez-Dominguez, E.; Friesen, V. (2019): Estimated six per cent loss of genetic variation in wild populations since the industrial revolution. In: Evolutionary applications, 12(8). S. 1505–1512.

Newman, D.; Cragg, G. (2020): Natural Products as Sources of New Drugs over the Nearly Four Decades from 01/1981 to 09/2019. In: Journal of Natural Products., 83(3).  S. 770–803.

Rohr, J.; Civitello, D.; Halliday, F.; Hudson, P.; Lafferty, K.; Wood, C. ; Mordecai, E. (2020): Towards common ground in the biodiversity-disease debate. In: Nature ecology & evolution, 4(1). S. 24–33.

Stokstad, E. (2019): Devastating banana disease may have reached Latin America, could drive up global prices. In: Science, 17.07.2019. Online verfügbar unter: https://www.science.org/content/article/devastating-banana-disease-may-have-reached-latin-america-could-drive-global-prices [Zugriff: 22.12.2022].

UN United Nations (1992): Convention on Biological Diversity.

UN United Nations (2015): Transforming our world: the 2030 Agenda for Sustainable Development.

UNESCO United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (2011): Ethics and Biodiversity.

WEF World Economic Forum (2023): The Global Risks Report 2023. Insight Report 18th Edition.

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