Bildungsinstitutionen und Institutionsbildung

Gemeinhin wird Bildung als geistiger Erkenntnisgewinn begriffen, dessen wesentliche Voraussetzungen Ruhe sowie etwas Konzentration und Motivation seien. Bildung, so die nicht seltene Erwartung, sei demnach etwas, dass der Mensch durch und in sich selbst finden kann. Solch eine einseitig idealistische Perspektive auf Bildung als private Angelegenheit verdeckt die materialistischen Zusammenhänge, in denen Bildung wechselwirkend verfangen ist. Denn Bildung findet nicht im räumlichen Vakuum statt. Sie steht in untrennbarer Beziehung mit jenen Räumen, denen ein Bildungssystem institutionell zugeschrieben ist. Bildung, verstanden als etwas Immaterielles und Geistiges, bedarf stets einer materiellen und physischen Basis.

Idealistische Betrachtungen

Primär ideelle und vermeintlich von umgebenden Kontexten abgelöste Deutungen von Bildung lassen sich in vielen Rezeptionen des von Wilhelm von Humboldt formulierten sozialen Leitbilds „Einsamkeit und Freiheit“ (vgl. Humboldt 1809) finden. In dieser Grundformel meint geistige „Freiheit“ die Möglichkeit, sich zweckfrei und ohne äußeren Zwang den Wissenschaften anzunehmen. „Einsamkeit“ bezeichnet eine positive soziale Isolation des unter der Universitätsidee lebenden und sich mit ihr identifizierenden Menschen, welche von den Elendigkeiten des bürgerlichen Lebens befreien sollte, so dass sich ohne Ablenkung oder Beeinflussung durch äußere Belange geistig entfaltet werden kann (vgl. Schelsky 1963). Diese Auffassung bildet das Selbstverständnis der frühen deutschen Universitäten als akademische Selbstverwaltung, Verbindung von Lehre und Forschung sowie Abgrenzung von anderen institutionellen Aufgabengebieten. Vor der industriellen Revolution gab es vergleichsweise wenig Zweifel über die Bestimmung und den Zweck der Hochschulen (vgl. Schenk 1962). Heute ist es üblich geworden, dass private Unternehmen Bezeichnungen für Raumtypen aus dem universitären Kontext übernehmen, und sich beispielsweise als Campus präsentieren (vgl. Schindler 2002). Häufig besteht die Annahme, Innovationen könnten besser im privaten Sektor geleistet werden als an öffentlich-staatlichen Institutionen, es sei denn, sie agieren in korporatisierter Weise, um kompetitiv zu bleiben. Dieser Wettbewerb zieht sich über privatwirtschaftlich geförderte Drittmittelforschung bis in jene Bereiche, in denen Humboldts „Einsamkeit und Freiheit“ gelten sollten, wie in der Grundlagenforschung. Spätestens seit solchen Vermischungen müssen sich die idealistischen Bemühungen um Bildung und die dafür angemessenen Orte zunehmend gegenüber pragmatischen Legitimationen behaupten: Die Universität als Stätte der Berufsausbildung und der Vergesellschaftung durch Wissenschaft mit unmittelbar praktischen Nutzen – Akademische Abschlüsse als berufsqualifizierendes Sprungbrett für höherer finanzielle Erträge und kulturelles Kapital.

Materialistische Betrachtungen

Egal welchen Maßstab man anlegen mag – sei es zweckfreier humanistischer Idealismus oder verwertbare Wissensökonomie – jede Perspektive auf Bildung verbindet die Notwendigkeit, dass sie sich über eine gewisse Dauer (womöglich gar lebenslang) und an spezifischen Orten ereignet. Hier kommt ein weiterer Aspekt des Bildungsbegriffs ins Spiel: Bildung als Herstellen und Formen. Die räumliche Dimension von Bildung setzt die immateriellen Ideale der Bildung in Wechselwirkung mit Perspektiven des Materialismus. Als materialistisch kann Bildung aus zweierlei Hinsicht beschrieben werden: zum einen dahingehend, dass ihre Zugänglichkeit ökonomisch bedingt ist, und zum anderen, dass selbst das vermeintlich geistige Gut – die Bildung – in der körperlich-stofflichen Welt verankert ist. Bildungsräume seien demnach Produktionsstätten wissenschaftlicher Arbeit und der Stellenwert einer Bildungsstätte abhängig von der Qualität ihrer architektonischen Anordnung. (vgl. Paul/Vogel 2016). Bildungsinstitutionen wiederum lassen sich nach dieser Lesart zwischen theoretischen Bildungsauffassungen und den Infrastrukturen für Bildung verorten. Die räumliche Konfiguration von Bildungsinstitutionen ist ausschlaggebend dafür, wie gesellschaftlichen Herausforderungen und Zukunftsfragen begegnet wird und wie sich der Austausch zwischen den Fachdisziplinen gestaltet. Die gebaute Infrastruktur bildet die Grundlage möglicher Handlungs-, Beziehungs- und Lernprozesse. Andersherum wird von der Hochschularchitektur erwartet, dass sie flexibel auf gesellschaftliche Dynamiken reagiert. Aber Gebäude sind wie (Bildungs-)Institutionen: von Dauer und geringer Mobilität – sie sind in der Regel Immobilien und nur mit hohem Planungsaufwand tiefgreifend wandelbar. Welche Orte für Bildung angemessen sind, ist sowohl eine Frage der Wissenschafts- und Hochschulforschung als auch der räumlichen Disziplinen, wie der Architektur. Denn Hochschularchitekturen sind nicht bloß quasi-gegebene Kulissen der Wissenschaften. Zudem ist der Hochschulbau mehr als nur einen Dienst am Kunden zu leisten – also einen störungsfreien Betrieb zu ermöglichen. Die spezifische Ausprägung von Bildungsräumen hat Auswirkungen auf die Subjekte, die in ihnen arbeiten und lernen. Es lohnt sich daher, einen Blick auf die Gründungsgeschichte der neueren Universitäten zu werfen, welche ihren ersten Lebenszyklus erreicht haben und derzeit im Prozess der Modernisierung und Ergänzung stehen.

Das Erbe der Reformuniversitäten

Die Schaffung von Bildungsstätten durch Universitätsneugründungen gehörte zu den zentralen Bauaufgaben der jungen Bundesrepublik. In der BRD, und vor allem in NRW, wurden – nach dem unmittelbaren Wiederaufbau existenzieller Strukturen wie Wohnungen und Straßen in den 1950er Jahren – in kürzester Zeit Bildungseinrichtungen in bislang ungekannten und nicht wieder erreichten Ausmaßen errichtet. Ein Aspekt dieser, unter der politischen Trägerschaft des sozialliberalen Wohlfahrtstaates durchgeführten Mission war es, Bildungsstätten für größere Teile der Bevölkerung zugänglich zu machen. Ein zweiter Aspekt des exzessiven staatlichen Ausbaus der Bildungslandschaft war es, politische und gesellschaftliche Reformen möglichst verlustfrei in neue Raumkonzepte für die geplanten Bildungsinstitutionen zu übersetzen. Einen architektonischen Entwurf für die neuen Universitäten zu liefern, bedeutete, „ein Konzept, das bisher nur als theoretisches Gedankengebäude bestand, in ein räumliches Gefüge umzusetzen“ (Köpke 2018), wie es einer der ausführenden Architekten des größten zusammenhängenden Universitätsgebäudes Deutschlands, dem Hauptgebäude der Universität Bielefeld, rückblickend reflektierte. In der Bundesrepublik Deutschland wurden in kurzer Zeit insgesamt 24 neue Universitäten etabliert. Zwischen 1970 und 1985 wurde eine Summe von 38 Milliarden DM von Bund und Ländern aufgebracht, um zusätzliche zwei Millionen Quadratmeter Universitätsgebäude zu errichten (vgl. Hnilica 2014). Noch heute machen die Universitätsgründungen aus dieser Dekade einen Großteil der gebauten Hochschullandschaft aus. Die Produkte eben dieser Bauwelle werden heute in Anbetracht ihres gealterten Zustands im Namen der Modernisierung erneut zum Objekt architektonischer und politischer Aushandlungsprozesse.

Zweckbestimmte und zweckfreie Orte der Bildung

Damalige Gründungsbeauftragte, z. B. der vom Nationalsozialismus vorbelastete, aber nach dem Krieg weiterhin aktive Soziologe Helmut Schelsky für die Reformuniversität Bielefeld, versuchten Pragmatik und Idealismus (vgl. Hülsmann 2016) in modernen Systembauten zu verknüpfen. Schelsky suchte in seiner gleichnamigen Monografie, das Bildungsideal „Einsamkeit und Freiheit“ – Humboldts Leitformel – in der modernen, verwalteten Nachkriegszeit operativ zu machen (vgl. Schelsky 1963). So wurde sich unter anderem auf die Humboldt’sche Einheit der Wissenschaften und die interdisziplinäre Verflechtung berufen (vgl. ebd.). Es sei hier ein „Reformgrundsatz anzuwenden, so daß gleichsam mit jedem Schritt der Spezialisierung, der erzwungen wird [durch die Einzeldisziplinen der Wissenschaft], eine Gegenmaßnahme der Integration erfolgt.“ (Schelsky 1963: 297). Schelsky erkannte, dass die Humboldt’schen Bildungsideale in Konflikt mit der erzwungenen Rationalisierung des Studiums zur wissenschaftlichen Betriebsausbildung standen. Die Widersprüchlichkeit in den Reformanforderungen an das Hochschulsystem, die „betriebsförmig organisierbaren Großinstituteinheiten“ (Schelsky 1969: 20) in Verbindung mit den immens gestiegenen Studierendenzahlen sowie der arbeitsteiligen Trennung zwischen Lehre und Forschung, kritisierte Schelsky. Nach ihm sei „die akademische Welt in vielerlei Hinsicht zu einem getreuem Spiegelbild der modernen Wirtschaftsgesellschaft“ geworden. (Schelsky 1963: 225). „Die institutionelle und finanzielle Förderung der Wissenschaft durch den Staat ist heute nicht mehr als kulturstaatliche Pflege der Wissenschaft und schönen Künste um ihrer selbst willen zu verstehen, sondern ist gesellschafts- und wirtschaftspolitische Investition“ (Schelsky 1963: 226). In diesen Phänomenen der Hochschulentwicklung gäbe es maximal noch Schlupflöcher, „die im Einzelfall erlauben, Freiheit, Einsamkeit und Bildung noch im höchsten Maße zu leben als in anderen Institutionen der modernen Gesellschaft.“ (Schelsky 1963: 229). Schelsky attestierte schließlich das „Versagen der Hochschulpolitik“ in seiner gleichnamigen nächsten Monografie (vgl. Schelsky 1969) und zog sich aus der Universitätsplanung zurück. Nichtsdestoweniger könnte das Erbe aus der Bildungsexpansion der 1960er- und 1970er-Jahre nicht als lästiger und megalomaner Nachlass verstanden werden, sondern als Zeugnis einer Periode, in der die Strukturen der Bildungsräume und somit auch des Wissens selbst auf experimentelle Weise neu gedacht wurden. Ob an die humanistisch-idealistischen oder ökonomisch-utilitaristischen Konzeptionen vertiefend angeknüpft wird, zeigt sich in der künftigen Hochschulplanung.

Evidenz im Raum

Der anhaltende Konflikt zwischen nie gänzlich erfüllbarem, zweckfreiem Bildungsideal einerseits und Bildung als Mittel zum Zweck andererseits, so die These, äußert sich in den gebauten Infrastrukturen der Bildungsinstitutionen. Die Eigentümerlage, Priorisierungen bei der Haushaltsführung des Staats und die Methoden der architektonischen Planung haben sich seit den Gründungen der hiesigen Universitäten verändert. Doch wie schon während der Gründungsepoche der modernen, deutschen Hochschulen, stellt sich bei der Modernisierung und Erweiterung die Frage, welche Bildungsideale in ihnen zum Ausdruck kommen. „Bildungsideale verbinden sich so von Beginn an mit der Bildungspolitik und dem Bildungssystem als dem bevorzugten Ort, von dem man die Realisierung der Ideale erwartet.“ (Tenorth 2013: para. 3). Nach wie vor wird die Raumplanung spätestens dann zum politischen Aushandlungsfeld, wenn entschieden werden muss, welchen Fachrichtungen optimierte Raumkonfigurationen verfügbar gemacht werden und welchen nicht. Denn durch die Schaffung einer gebauten, materiellen Basis für einen disziplinspezifischen oder gar experimentspezifischen Wissenschafts- oder Forschungsbereich wird dieser gefördert. Schon immer war es so, dass räumliche Infrastrukturen mancher Disziplinen ausgebaut, während andere verkleinert werden. Die Frage ist, nach welchem Maßstab dies geschieht, wer mit welcher Wirkkraft bei Entscheidungen beteiligt wird und wie sich Verhandlungsprozesse gestalten. Es gilt daher bauliche Veränderungen der Hochschulen aufmerksam und kritisch zu beobachten. Denn an ihnen lässt sich die womöglich unauflösliche Dichotomie zwischen zweckfreiem Bildungsideal und zweckgebundene Ökonomisierung der Bildung ablesen.

Literaturverzeichnis

Hnilica, S. (2014): Systeme und Strukturen. Universitätsbau in der BRD und das Vertrauen in die Technik. Wolkenkuckucksheim, Internationale Zeitschrift zur Theorie der Architektur, 19(33). S. 211–233.

Humboldt, W. (1809): Der Königsberger und der Litauische Schulplan. In: German History Intersections. Online verfügbar unter: https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-7 [Zugriff: 11.10.2023]

Hülsmann, I. (2016): Denken, Planen, Bauen. Zur Entstehungsgeschichte der Universität Bielefeld. In: Paul, M.; Vogel, F. (Hg.): Architekturen unserer Arbeit. Grundlagenforschung für eine linke Praxis in den Geisteswissenschaften #2. Hamburg: Adocs Verlag. S. 30–52.

Köpke, K. (2018): 50 Jahre Universität Bielefeld. Interview vom 09.05.2018. Universitätsarchiv Bielefeld.

Paul, M.; Vogel, F. (2016): Editorische Bemerkungen zur zweiten Ausgabe. In: Paul, M.; Vogel, F. (Hg.): Architekturen unserer Arbeit. Grundlagenforschung für eine linke Praxis in den Geisteswissenschaften #2. Hamburg: Adocs Verlag. S. 114–128.

Schelsky, H. (1963): Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag. E-Book 2017.

Schelsky, H. (1969): Abschied von der Hochschulpolitik oder Die Universität im Fadenkreuz des Versagens. Bielefeld: Bertelsmann Universitätsverlag.

Schenk, H. (1962): Gedanken zur Flexibilität und Anpassungsfähigkeit von Hochschulen und Instituten. Das Werk, 49(4). S. 113–114.

Schindler, S. (2002): Der historische Wandel des Campus-Bildungsideals. In: Marius Babias, Florian Waldvogel (Hrsg.): Campus 2002. Zeitgenössische Kunst und Kritik. Essen: Kokerei Zollverein. S. 84–99.

Tenorth, H. (2013): Bildung – zwischen Ideal und Wirklichkeit. In: bpb.de, 09.09.2013. Online verfügbar unter: https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/146201/bildung-zwischen-ideal-und-wirklichkeit/ [Zugriff: 11.10.2023]

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