Bilder einer Stadt: Der Bilbao-Effekt

Wäre der Autor des Romans Die unsichtbaren Städte, Italo Calvino, jemals in Bilbao gewesen, hätte er wahrscheinlich nicht gewusst, ob er sie als eine verborgene oder als eine zusammenhängende Stadt einstufen sollte. Wahrscheinlich hätte er von einer Wasserzunge gesprochen, die eine Bevölkerung in zwei aufteilt, von einer Bergwand, die die Stadt schützt und gleichzeitig isoliert und von der Art und Weise, wie die Erde sich zum Meer hin öffnet. Er hätte mit Sicherheit den konstanten und unaufhaltsamen Rhythmus des Regens bemerkt, der sogar den Himmel verwischt und ihn in die Farbe des Stahls verwandeln kann – derselbe, der aus dieser Erde gekommen ist und seine Bewohner reich gemacht hat.

In den achtziger Jahren blieben vom goldenen Zeitalter der Stahlindustrie und des Schiffbaus jedoch nur geschwärzte Gebäude, eine Ria voll chemischen Abfalls, eine hohe Arbeitslosigkeit, die Introvertiertheit und Angst, die durch politische Instabilität hervorgerufen wurde. Bilbao brauchte dringend einen Richtungswechsel, einen Wandel von einer Industrie- zur Dienstleistungs- und Kulturstadt.

Die Lösung der bilbaínos (die Einwohner Bilbaos), wenn auch utopisch, bestand darin, den Architekten Frank Gehry mit dem Bau eines völlig bahnbrechenden Gebäudes zu beauftragen: das Guggenheim Museum Bilbao. Diese Kreuzung aus Palazzo und Schiff aus Stein und Titan sollte die Transformation der Stadt repräsentieren und gleichzeitig der Motor der wirtschaftlichen Erneuerung sein.

Die Einweihung des Museums veränderte die Geschichte der Stadt schlagartig:

Dank des katalytischen Impulses erlebte Bilbao in den Folgejahren eine für eine Stadt dieser Größenordnung nie zuvor gesehene urbane und wirtschaftliche Renaissance, die heute als Bilbao-Effekt bekannt ist. Viele andere postindustrielle Städte wie Wolfsburg, Graz oder Luzern haben versucht, den Erfolg, der durch die sogenannte Star-Architektur erzielt wurde, nachzuahmen. Nach einer aktuellen Forschung der Technischen Universität München hatten alle ikonischen Projekte jeweils positiv wirtschaftliche und soziale Auswirkungen für die Städte, obwohl ein Erfolg wie in der spanischen Gemeinde sicherlich nicht erreicht wurde.

Die Wahrheit aber ist, dass ein einzelnes Gebäude, egal wie ikonisch es ist, die Zukunft einer Stadt nicht ändern kann. Frank Gehry selbst hat während des Baus seines Guggenheim Museums seine Zweifel eingestanden. Der Schlüssel zum Erfolg von Bilbao liegt in einer Mischung aus einem gelungenen lokalen und regionalen Kontext, einer wirksamen Umweltpolitik und einer kontinuierlichen Investition in neue Infrastrukturen, von denen viele von bekannten Star-Architekten wie Zaha Hadid, Norman Foster oder Santiago Calatrava entworfen wurden. All dies geschah, ohne die Geschichte der Stadt und die dazugehörigen Gebäude zu vergessen. Das Guggenheim Museum war schließlich nicht die einzige Maßnahme gewesen, mit der sich Bilbao erneuert hat.

Jede Stadt, die besonders sein will, muss mit dem arbeiten, „was an Materialitäten, Praktiken und Repräsentationen bereits vorhanden [sei]“, wie der Kultursoziologe Andreas Reckwitz in seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ schreibt. Jede Stadt, die international anerkannt werden will, muss auch die lokalen Eigenlogiken kennen und nicht nur die Formel des Bilbao-Effekts. Möglicherweise kann der Bilbao-Effekt nur an einem Ort funktionieren: in Bilbao.


Weiterführende Literatur:

Ponzini, D.; Nastasi, M. (2016): Starchitecture: Scenes, Actors and Spectacles in Contemporary Cities. Turin: The Monacelli Press.

Sklair, L. (2017): The Icon Project: Architecture, Cities and Capitalist Globalization. Oxford: Oxford University Press.

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