Der vorliegende Beitrag gibt einen kurzen Einblick in die Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung, in deren Rahmen sowohl Kinder- und Jugendpsychotherapeutinnen als auch eine Kinderärztin zum Sozialisationseinfluss der sozialen Medien befragt wurden.
Instagram, Facebook, WhatsApp, Snapchat – soziale Medien sind heutzutage in aller Munde und erfreuen sich großer Popularität. In Deutschland verbringen die Nutzer_innen durchschnittlich 64 Minuten täglich mit der Verwendung sozialer Netzwerke. Vor allem bei Heranwachsenden sind sie besonders beliebt: So nutzten im Jahr 2018 etwa 66% der 10- bis 15-Jährigen und 89% der 16- bis 24-Jährigen soziale Medien (vgl. Rabe 2019). Dabei erfüllen sie für die Heranwachsenden eine Reihe von Funktionen: Neben Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten bieten sie weiterhin unter anderem die Möglichkeit zur Orientierung, Selbstdarstellung und Generierung von Selbstwert (vgl. Krüger 2019: 33–39). Die Verwendung sozialer Medien übt demnach einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die (soziale) Entwicklung heranwachsender Kinder und Jugendlicher aus, der jedoch häufig den Nutzer_innen sozialer Netzwerke selbst nicht bewusst ist. Eine Konsequenz dieses Einflusses ist eine erhöhte Prävalenz von Essstörungen in der Pubertät, wie erste Untersuchungen von Sidani et al. (2016) und Mabe et al. (2014) zeigen. Doch wer ist verantwortlich für diese Entwicklung?
Jede_r, der bzw. die soziale Medien nutzt, ist Teil eines Wechselspiels von Beeinflussung: Man wird nicht nur durch das Nutzungsverhalten anderer beeinflusst, sondern das eigene Nutzungsverhalten beeinflusst gleichwohl andere Nutzer_innen der Plattform. Die Ursache für diese wechselseitige Beeinflussung kann in der Sozialisationswirkung gesehen werden, die jede Handlung in den sozialen Medien ausübt. Hurrelmann (1998) erklärt Sozialisation als „den Prozeß, durch den der Mensch […] zur sozialen, gesellschaftlich-handlungsfähigen Persönlichkeit wird, indem er in gesellschaftliche Struktur- und Interaktionszusammenhänge (in Familien, Gruppen, Schichten, usw.) hineinwächst“ (ebd.: 275). Die Sozialisation ist demnach eng mit der Internalisierung von „gesellschaftlichen Werten, Normen und Handlungsanforderungen“ (ebd.: 276) verbunden: Der Mensch lernt nicht nur die entsprechenden Werte kennen, er lernt im Laufe des Sozialisationsprozesses auch, diese anzuwenden (vgl. ebd.).
Normen, Werte und Handlungsanforderungen werden in den sozialen Medien laufend an die Nutzer_innen vermittelt. Eine der befragten Therapeutinnen erklärt, Aussehen habe in den sozialen Medien „allererste Priorität“ (E2: 79), wobei sie den Erwartungen, welche an Frauen gestellt würden, kritisch gegenüberstehe (vgl. ebd.: 313ff.). Grund dafür sei die Betrachtung der Frau als „Ware“ (ebd.: 315), die einem Mann lediglich gefallen könne, wenn sie diese speziellen Erwartungen erfüllte (vgl. ebd.: 313–316). Ein zweiter Wert, der vermittelt wird, ist Leistung: „Wer hat wieviel wovon?“ (ebd.: 87f.). Soziale Medien suggerierten, man bekomme lediglich dann soziale Anerkennung, wenn man folgende Anforderungen erfülle: „[D]u musst schön sein, du musst dünn sein“ (E7/E8: 208), „[d]u musst beliebt sein, du musst hunderttausend Freunde haben, du musst reich sein“ (ebd.: 212).
Neben der Vermittlung von Normen, Werten und Erwartungen spielen Vorbilder eine zentrale Rolle für den Sozialisationsprozess, auch oder gerade im Kontext sozialer Medien. Der Peergroup als wesentlichem Element jugendlicher Sozialisation kommt auch in den sozialen Medien eine wichtige Bedeutung zu. Die sogenannten Influencer_innen stellen dagegen ein neues, jedoch in seinem Einfluss nicht zu unterschätzendes Element dieser speziellen Sozialisationsinstanz dar, wie in den Interviews deutlich wurde. Eine Interviewpartnerin vermutet nicht nur, dass der Erfolg der Influencer_innen anziehend auf die Heranwachsenden wirke (vgl. E3: 158ff.), sondern dass viele von ihnen darin ein eigenes Ziel sähen: „Ich glaube wirklich, dass es hier einige Kinder und Jugendliche gibt, die als Berufswunsch Influencer_in haben“ (ebd.: 160f.). Eine andere Therapeutin fasst die anziehenden Eigenschaften folgendermaßen zusammen: „Die sind so schön, die sind so erfolgreich, denen gelingt alles sofort, die können sich sehr gut darstellen, die haben viele Follower“ (E7/E8: 369ff.).
Doch nicht nur ihre Vorbilder beeinflussen die Heranwachsenden in den sozialen Medien: Sechs der acht befragten Expertinnen sind der Meinung, dass auf entsprechenden Plattformen Realität nicht nur abgebildet, sondern vor allem verzerrt wird. Eine Therapeutin glaubt, dass in den sozialen Medien eine beschönigende Form der Realität dargestellt würde (vgl. E7/E8: 163). Speziell für Instagram beschreibt eine andere Therapeutin einen ähnlichen Eindruck, wobei sie darauf verweist, dass auch pädagogisches Fachpersonal von dieser Beschönigung nicht auszunehmen sei: „Auch Profis, die immer mit Kindern arbeiten, die zeigen sich da so schick, so gestylt, dass da sehr leicht der Eindruck entstehen kann: Meine Welt ist Tag und Nacht, 24 Stunden, wahnsinnig spektakulär, aufregend und toll, aber nicht gezeigt wird, wenn ein Problem da ist. Und wie ich mich mit diesem Problem auseinandersetzen muss“ (E1: 130–133). Eine der Therapeutinnen erklärt: „[Es] werden auch nur tolle Ereignisse geliked oder gepostet. Als wäre das Leben immer nur toll und super“ (E7/E8: 198f.).“
Alle sechs Expertinnen, die eine Verzerrung der Realität in den sozialen Medien wahrnehmen, sehen darin auch eine Gefährdung der Heranwachsenden. Eine von ihnen glaubt, durch den täglichen Konsum dieser Verzerrungen würde die eigene Wahrnehmung ebenfalls verzerrt (vgl. E7/E8: 180–183), was sie als besonders gefährlich für Heranwachsende einstuft, die bereits mit einer Essstörung zu kämpfen haben, „weil das eine verzerrte Darstellung ist, die [s]ie da Tag für Tag in sich aufsaugen und die jeden Tag immer extremer wird“ (ebd.: 192f.). Eine weitere Therapeutin sieht vor allem eine Gefährdung selbstunsicherer Jugendlicher: Diese „verlieren dann […] den Zugang zur Realität, dass das Leben keine Seifenoper ist“ (ebd.: 199f.). Beschrieben wurden außerdem gestörte Selbstwirksamkeitserfahrungen, beispielsweise in Bezug auf das eigene Äußere: „Man jagt immer einem Körperbild hinterher, das man nicht erreichen kann, was nicht mal möglich ist teilweise“ (E6: 164f.).
Wenngleich es sich hierbei um eine stark verkürzte Darstellung einzelner Untersuchungsergebnisse handelt, so wird dennoch deutlich, dass die Verantwortung für die gestiegene Prävalenz von Essstörungen durch soziale Medien nicht einer einzelnen Person oder Personengruppe zuzuweisen ist. Vielmehr tragen alle Nutzer_innen sozialer Medien gleichermaßen Verantwortung, und das (auch) unabhängig von ihrer Followerzahl. Wie auch die befragten Expertinnen betonen, ist der Einfluss der Influencer_innen, bedingt durch deren teils enorme Reichweiten, nicht zu unterschätzen. Doch das Grundprinzip, nach welchem soziale Medien funktionieren, „die schönen Dinge des Lebens“ mit dem sozialen Umfeld zu teilen, fernab zeitlicher und geografischer Grenzen – diesem Prinzip folgen wir alle. Denn schließlich kann die Bestätigung, die wir auf diesem Weg erhalten, auch einen guten Zweck erfüllen: Sie kann unseren Selbstwert stärken. Wichtig ist jedoch immer das Bewusstsein, dass jede Nutzung sozialer Medien, wie auch immer diese Nutzung im Einzelfall aussehen mag, andere Menschen nachhaltig beeinflussen kann. Wie wir diesen Einfluss dann gestalten wollen, liegt in unserer Verantwortung.
Quellen
E1 (2019): Interview mit Kinder- und Jugendpsychotherapeutin. Eigene Erhebung im Rahmen der Masterarbeit „Zum Einfluss sozialer Medien auf die Prävalenz von Essstörungen in der Pubertät“.
E2 (2019): Interview mit Kinder- und Jugendpsychotherapeutin. Eigene Erhebung im Rahmen der Masterarbeit „Zum Einfluss sozialer Medien auf die Prävalenz von Essstörungen in der Pubertät“.
E3 (2019): Interview mit Kinder- und Jugendpsychotherapeutin. Eigene Erhebung im Rahmen der Masterarbeit „Zum Einfluss sozialer Medien auf die Prävalenz von Essstörungen in der Pubertät“.
E7/E8 (2019): Interview mit Kinder- und Jugendpsychotherapeutin. Eigene Erhebung im Rahmen der Masterarbeit „Zum Einfluss sozialer Medien auf die Prävalenz von Essstörungen in der Pubertät“.
Hurrelmann, K. (1998): Einführung in die Sozialisationstheorie. Über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Persönlichkeit. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.
Mabe, A. G.; Forney, K. J.; Keel, P. K. (2014): Do you “like” my photo? Facebook use maintains eating disorder risk. In: International Journal of Eating Disorders. 47. Jg. 2014/05 (Special Issue: Eating Disorders in Adolescents). S. 516–523.
Krüger, C. (2019): Zum Einfluss sozialer Medien auf die Prävalenz von Essstörungen in der Pubertät. Masterarbeit. Aachen: RWTH.
Rabe, L. (2019): Ranking der Länder mit höchster durchschnittlicher Nutzungsdauer von Social Networks weltweit im Jahr 2018 (in Minuten pro Tag). Online verfügbar unter: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/160137/umfrage/verweildauer-auf-social-networks-pro-tag-nach-laendern/ [Zugriff: 02.11.2019].
Sidani, J. E.; Shensa, A.; Hoffman, B.; Hanmer, J.; Primack, B. A. (2016): The Association between Social Media Use and Eating Concerns among U.S. Young Adults. In: Journal of the Academy of Nutrition and Dietetics. 116. Jg. 2016/09. S. 1465–1472.