Laura Cappenberg ist 36 Jahre alt, hat an der Universität Duisburg-Essen und der University of Waikato in Neuseeland Lehramt studiert, ihre Sexualpädagogik-Weiterbildung absolvierte sie in Duisburg. Auf ihrem Instagram Account „yes.let`s.talk.about.“ bewirbt sie ihren Periodenpower Workshop und eine dazugehörige Mitmachausstellung. Ihre persönliche Motivation ist es, das Thema Sexualität zu enttabuisieren, Mythen auf(zu)klären, Spannendes (zu) entdecken“.
Hallo Laura, danke für deine Zeit! Könntest du einmal erläutern, was genau man in der Ausbildung zur Sexualpädagogin lernt?
Vorweg: Es ist wichtig Sexualpädagogik und -beratung, bzw. -therapie voneinander zu unterscheiden. In der Sexualpädagogik bietet man Bildungsangebote für Menschen an, rund um das Thema Sexualität, statt Beratungsgespräche zu führen. Wobei es zwischendurch natürlich vorkommen kann, dass man sich über persönliche Fragen austauscht, ganz klar! In der Ausbildung lernt man erstmal vieles rund um das Thema Sexualität. Es stellen sich Fragen, wie „Was heißt eigentlich Sexualität?“, und „Wie hat sich unsere Vorstellung davon verändert?“, „Wie hat sich Sexualpädagogik entwickelt in den letzten 100 Jahren und länger?“. Ein großer Teil der Ausbildung ist auch Haltungsarbeit. Das bedeutet sich die Frage zu stellen, „Wie stehe ich zu bestimmten Themen?“, sich mit dem Identitätsaspekt von Sexualität zu beschäftigen, und zu schauen, wo sich da Bezug zum Alltag herstellen lässt. Es geht darum, herauszufinden, wo Sexualität uns überall berührt, da es dabei um deutlich mehr als „nur Sex haben“ geht. Dann lernt man eine Menge darüber, das alles unterschiedlichen Gruppen zu vermitteln. Wichtig dabei ist, sich eine Sensibilität für verschiedene Erfahrungen, die Menschen mitbringen, von sehr positiven Erfahrungen bis hin zu Traumata, anzueignen. Generell zeigt die Ausbildung einem, wie wichtig sexuelle Bildung als Präventionsmaßnahme für sexualisierte Gewalt ist, aber unabhängig davon auch andere positive Dinge mit sich bringt. Am Ende probiert man sich aus in einem Praxisprojekt, und sammelt Erfahrung darin, mit unterschiedlichen Menschen thematisch in Begegnung zu treten.
Danke für den Einblick! Du hast dementsprechend sicher auch einige Anregungen dazu, was deiner Meinung nach im deutschen Sexualkundeunterricht fehlt?
Ja! Der erste Punkt, den ich hier anführen möchte, ist Zeit – so wie immer, wenn es um das Thema Schule geht. Um aber auch noch davor anzusetzen: Viele der Lehrkräfte sind gar nicht ausreichend gebildet, obwohl sexuelle Aufklärung eigentlich die Aufgabe jeder Lehrperson ist. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass das im Studium nicht genug behandelt wird. Ich habe sogar Biologie studiert, und selbst da hatte ich einen Seminar-Tag zu dem Thema, und das war‘s. Das reicht nicht aus. Dann fehlt eigentlich alles, was über das „Biologische“ hinausgeht. Und selbst da ist der in den Blick genommene Bereich binär. Bezüglich der Frage „Welche Genitalien gibt es?“, werden Inter-, und Trans*-Genitalien gar nicht mit in die Darstellung aufgenommen. Ein Thema, was noch intensiv betrachtet wird, ist Verhütung, aber zum Beispiel die positiven Seiten von Sexualität werden gar nicht beleuchtet. Es geht nicht um die Fragen „Wie kann ich für mich herausfinden, was ich mag?“, oder „Wie kann ich eine gute Beziehung führen?“, „Wie kann ich kommunizieren, wenn mir etwas nicht gefällt?“. Eine positive Veränderung, was meiner Erfahrung nach allerdings sehr von den Lehrkräften abhängt, ist, dass das Thema LGBTQIA+ langsam den Weg in die Schulen findet, aber auch da ist natürlich Luft nach oben.
Was sind dann deiner Meinung nach Themen, die im Kontrast dazu aus dem Curriculum gestrichen werden könnten? Und sind gewisse Aspekte vielleicht sogar überholt?
Das ist eine gute Frage, die schwierig zu beantworten ist. In NRW gibt es die sogenannten „Richtlinien für Sexualerziehung“, die sogar sehr vielfältig und divers verfasst sind. Das Problem liegt eher darin, dass diese kaum umgesetzt werden. Im Biologie-Lehrplan der 9. Klasse liegt der Fokus diesbezüglich auf Schwangerschaft, Entwicklung eines Fötus, und Geburt, was für mich persönlich ein Problem darstellt. Das ist ein superwichtiges und spannendes Thema, aber durchschnittlich eher nicht relevant für die Lebensrealität eines Kindes in der 9. Klasse. Bis man tatsächlich schwanger wird, hat man das meiste Wissen dann vergessen, und muss sich so oder so dann neu damit beschäftigen.
Wie lassen sich denn deine Vorstellungen am besten umsetzen? Was sind deiner Meinung nach Wege, die Situation zu verbessern?
Anzusetzen wäre da zuerst vor allem bei der Weiterbildung der Lehrkräfte. Im Lehramtsstudium sollte am besten jede studierende Person damit in Kontakt kommen. Das liegt daran, dass Lehrkräfte junge Menschen in einer kritischen Lebensphase begleiten, in der Sexualität auf neue Arten und Weisen interessant wird, und gerade dann das Thema relevant wird. Ein bisschen Ahnung zu haben, wie damit umzugehen ist und welche Identitätsfragen aufkommen können usw., ist dann einfach hilfreich. Aber auch Weiterbildung im späteren Berufsalltag ist sehr wichtig, um Up-To-Date zu bleiben. Bei dem Thema trans* Schüler*innen, welches zum Glück im Schulalltag immer präsenter wird, gibt es zum Beispiel noch riesige Berührungsängste und generelle Unsicherheiten. Nach eigener Erfahrung kann ein Nachmittag, an dem das thematisiert wird, schon reichen, um einen Unterschied zu machen und Ängste abzubauen. Ein konkretes Beispiel zur Umsetzung generell ist die Sprache, durch die große Wirkungen erzielt werden kann. Da sollten Lehrpersonen auf jeden Fall mehr Werkzeug an die Hand bekommen. Materialien an sich sind auch ein passender Punkt an dieser Stelle. Es sollte für Vielfältigkeit gesorgt werden. Modelle, die auch Trans*- und Inter-Genitalien repräsentieren, sind dafür ein gutes Beispiel. Aber auch unterschiedliche Penisgrößen, oder Vulvalippen-Längen zu zeigen, kann den Unterricht aufwerten. Auch wichtig ist, dass das Lehrpersonal die eigenen Grenzen kennt, und sich dann auch Unterstützung „dazu holt“. Insbesondere mit Blick auf die sowieso schon hohe Belastung von Lehrkräften, müssen Initiativen, die gute sexuelle Bildung in die Schulen bringen können (z.B. pro Familia, SCHLAU, freiberufliche Sexualpädagog*innen, etc.), finanziell unterstützt werden.
Welchen Irrglauben und eventuell falschen Vorstellungen begegnest du am häufigsten in deinen Workshops und im Unterricht? Gibt es da merkliche Unterschiede abhängig von Geschlecht, Alter, oder Beruf etc.?
Eine Sache, die sich auf Sex bezieht, ist die Vorstellung, dass Männer dauernd Sex haben wollen, und Frauen eher nicht. Ansonsten gibt es noch häufig die Annahme, dass Menschen mit Vulva „entjungfert“ werden und dass es das Jungfernhäutchen gibt, das dann reißt. Viele Menschen denken auch, dass der Zervixschleim etwas ist, das nicht normal ist, sondern etwas „Dreckiges“, wofür man sich schämen muss. Das stimmt natürlich nicht. Und gibt es da Unterschiede? Ich habe schon das Gefühl, dass Schüler*innen und junge Menschen bei dem Thema recht weit sind. Soziale Medien sind hier vermutlich ein relevanter Faktor, der sowohl positiven als auch negativen Einfluss nimmt, je nachdem in welcher „Bubble“ man sich befindet. Es findet sehr viel Bildung statt, aber eben auch Content, der zur Verhärtung von binären Geschlechterrollen, der Verbreitung von Fehlinformationen und so weiter beiträgt.
Und einmal ganz weg von den Schüler*innen: Welche Weiterbildungsmöglichkeiten empfiehlst du Erwachsenen im Bereich Sexualität?
Eine wichtige und schöne Sache ist, dass man sich bewusst macht, dass man zum Thema Sexualität ein Leben lang lernen kann, und sich auch so lange verändert. Abgesehen von dieser „Erkenntnis“ kann ich sehr empfehlen, dass man immer wieder auf Entdeckungsreise geht. Man kann sich gut Unterstützung dazu holen, um die Beziehung zum eigenen Körper und zu Sex zu verbessern. Workshops von Sexualpädagog*innen oder Tantra-Spezialist*innen, können zum Beispiel hilfreich sein. Ich hoffe sehr, dass sich das Angebot für Erwachsene dahingehend noch verbessert, insbesondere im Hinblick auf die Quantität. Ich möchte auch ermutigen, dass Menschen sensibler für ihre Grenzen werden, um sie gut einschätzen zu können, aber sich auch mit Neugier an Themen trauen, die vielleicht noch etwas Unsicherheit hervorrufen.
Und abgesehen davon: Gibt es Wissen, das deiner Meinung nach alle ab und zu auffrischen sollten?
Ich glaube generell geht es weniger um Wissen, sondern mehr, um die Bereitschaft die eigenen Einstellungen regelmäßig zu hinterfragen, nach dem Motto „Warum denke ich, dass XY so oder so sein muss?“ und „Wieso macht mich XY nicht mehr glücklich?“ etc. Das kann einen großen Unterschied machen und für positiveren Umgang mit der eigenen Sexualität sorgen. Bei solchen Fragen kann Unterstützung von außen sehr hilfreich sein. Generell rate ich dazu, über den Verlauf des Lebens zu versuchen, Scham im Zusammenhang mit dem Thema immer weiter abzubauen.
Lass uns zum Abschluss noch ein Gedankenexperiment machen: Stellen wir uns vor, dass alle utopisch aufgeklärt sind. Wie würde unsere Gesellschaft davon profitieren?
Eine schöne Vorstellung! Alle könnten auf jeden Fall selbstbestimmter mit ihrer Sexualität umgehen, was für mehr Zufriedenheit sorgen würde. Wir könnten kollektiv besser kommunizieren, was in sehr vielen Bereichen für Verbesserungen sorgen würde. Wahrscheinlich würde es weniger Gewalt geben, was sich auch auf die Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft auswirken würde. Nach meinen Vorstellungen würden wir in dem Gedankenexperiment auch das Patriarchat und die damit verknüpften Vorstellungen von Sexualität hinter uns lassen, was auch da positiven Einfluss nähme. Vor allem glaube ich, dass durch Sexualität „Lebenslust“ hergestellt werden kann, wodurch sich das zwischenmenschliche Klima vielleicht verbessern könnte.
Danke für deine Einblicke! Hast du noch abschließende Worte?
Was ich in meiner Arbeit stark gemerkt habe, ist, dass die meisten Menschen dankbar sind, wenn zu dem Thema ein Raum und ein Rahmen geschaffen wird, und sich sehr freuen, wenn sie Fragen stellen und sich austauschen können. Es gibt also durchaus Bedarf für meine Arbeit und den Wunsch, offen mit dem Thema umzugehen.
>> Das Interview wurde geführt von Emma Lemmen