Diskriminierung begegnet Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen und -kontexten. So divers und vielschichtig wie Gesellschaften und die Menschen, die in ihnen leben, sind, so divers und vielschichtig sind auch die Diskriminierungsformen, die im täglichen Leben erfahren werden. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) bildet die rechtliche Grundlage in Deutschland, durch die Diskriminierung verhindert werden soll. In diesem Beitrag werden die Grundzüge des AGG vorgestellt und basierend auf wissenschaftlichen Evaluationen kritisch hinterfragt, die seit Verabschiedung des Gesetzes durchgeführt wurden.
Was ist das Ziel des Gesetzes?
Mit dem AGG, das am 18.08.2006 verabschiedet wurde, gab es erstmals ein Gesetz in Deutschland, welches Diskriminierung aufgrund der in §1 des Gesetzes festgelegten Diskriminierungsmerkmale Rasse, ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion und Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Identität durch Akteure wie Arbeitgeber*innen, Vermieter*innen oder Anbieter*innen von Waren und Dienstleistungen verhindern soll. (vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes a)
Wie ist das Gesetz entstanden?
Entstanden ist das AGG aufgrund der europäischen Gesetzgebung. Der Rat der Europäischen Union beschloss in den Jahren zwischen 2000–2004 vier Gleichbehandlungsrichtlinien:
- Antirassismusrichtlinie
- Rahmenrichtlinie Beschäftigung
- „Gender-Richtlinie“ (Mittlerweile wurde diese Richtlinie mit anderen Richtlinien, welche die Gleichbehandlung von Männern und Frauen regeln sollen, neugefasst)
- Richtlinie zur Gleichstellung der Geschlechter auch außerhalb der Arbeitswelt
Das AGG ist die Umsetzung der europäischen Richtlinien ins deutsche Recht. (vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes b)
Wo wird das Gesetz angewendet?
Das Gesetz soll einen Diskriminierungsschutz in verschiedenen Lebenssituationen gewährleisten und kommt unter anderem im Bereich der Erwerbsarbeit zur Anwendung. Das bedeutet beispielsweise, dass Bewerbungsverfahren, die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen sowie das Arbeitsentgelt und die Entlassungsbedingungen diskriminierungsfrei gestaltet werden müssen (vgl. §2 AGG). Für die Umsetzung in den Betrieben bedeutet dies, dass Arbeitnehmer*innen das Recht haben, sich bei einer von Arbeitgeber*innen zur Verfügung gestellten Beschwerdestelle zu melden, wenn sie Diskriminierung erfahren (vgl. §13 AGG). Arbeitgeber*innen wiederum sind verpflichtet, bei einem Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot Schadensersatz oder eine Entschädigung zu leisten (vgl. §15 AGG). Darüber hinaus greift das Gesetz auch in weiteren Lebensbereichen, zum Beispiel im Sozialschutz und beim Zugang zu Gütern und Dienstleitungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, wie beispielsweise Wohnraum (vgl. §2 AGG).
Was ist Diskriminierung?
Wörtlich ist im AGG nicht von Diskriminierung, sondern von „Benachteiligungen” (§1 AGG) die Rede. Eine Benachteiligung lässt sich wie folgt definieren:
Jede Form einer weniger günstigen Behandlung ist eine Benachteiligung. Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Benachteiligung vorsätzlich oder in böswilliger Absicht geschieht. Entscheidend ist der nachteilige Effekt, der bei den Betroffenen durch die Ungleichbehandlung entsteht. (Antidiskriminierungsstelle des Bundes c)
Diskriminierung kann in vielfältigen Formen in Erscheinung treten. Im AGG werden daher verschiedene Ausprägungen von Benachteiligungen erfasst: So liegt eine „unmittelbare Benachteiligung” (§3 Abs. 1 AGG) vor, wenn die Diskriminierung direkt und offensichtlich aufgrund eines in §1 genannten Merkmals geschieht. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes nennt hierzu unter anderem folgendes Beispiel: Die Kündigung einer Frau wegen einer Schwangerschaft stellt eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts dar (vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes c). Eine „mittelbare Benachteiligung” (§3 Abs. 2 AGG) hingegen erfolgt aufgrund „dem Anschein nach neutrale[n] Vorschriften, Kriterien oder Verfahren” (§3 Abs. 2 AGG), welche jedoch bestimmte Gruppen diskriminieren. Ein Beispiel hierfür wäre eine Stellenausschreibung als Gärtner*in, in der die Beherrschung der deutschen Sprache vorausgesetzt wird. Da in dieser Tätigkeit keine besondere Sprachkenntnis notwendig ist, Bewerber*innen, die die deutsche Sprache nicht beherrschen, jedoch ausgegrenzt werden, läge hier eine Diskriminierung vor (vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes c). Weitere Formen von Benachteiligungen sind laut AGG Belästigung, sexuelle Belästigung und die Anweisung zur Benachteiligung einer Person (vgl. §3 AGG).
Was wurde seit Einführung des Gesetzes kritisiert?
Etwa zehn Jahre nach Inkrafttreten wurde das Gesetz im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle hinsichtlich der Wirksamkeit wissenschaftlich überprüft. Wissenschaftliche Mitarbeiter*innen der Universität Oldenburg, die mit der Evaluation des Gesetzes beauftragt wurden, veröffentlichten in Berghan et al. (2016) eine rechtswissenschaftliche und rechtstatsächliche Kritik des AGG. Das heißt, sowohl der Gesetzestext selbst als auch die praktische Wirksamkeit wurden genauer untersucht. Im Folgenden werden sechs Aspekte beispielhaft ausgewählt, um sich dieser umfassenden Evaluation zu nähern und ihre Umsetzung nachzuverfolgen:
1. Sprachliche Feinheiten (§1 Ziel des Gesetzes)
Da Diskriminierungsformen in einer hyperkomplexen Arbeits- und Lebenswelt dynamisch erscheinen, sollten präzise Formulierungen, wie in der europäischen Rechtsprechung bereits vorhanden, verwendet werden (vgl. Berghan et al. 2016). Beispiele hierfür sind:
- Dem internationalen/europäischen Rechtsgebrauch entsprechend soll im AGG nicht mehr von Benachteiligung, sondern Diskriminierung gesprochen werden (vgl. ebd.).
- Es wird empfohlen, die Formulierung der rassistischen Diskriminierung, anstatt der Diskriminierung aufgrund der Rasse, zu verwenden (vgl. ebd.).
- Zur rechtlichen Definition von „Menschen mit Behinderung“ wird empfohlen, die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen, sodass ein angemessenes Verständnis von Behinderungen im Rechtskontext angewandt wird (zurzeit besteht keine Legaldefinition von Menschen mit Behinderung). Die Ergänzung der Gesetzesbegründung trage dazu bei, dass unter anderem auch für chronisch Kranke das Versagen sogenannter angemessener Vorkehrungen, z.B. die Schaffung eines barrierefreien Arbeitsplatzes durch den Arbeitgeber, eine Diskriminierung darstellen würde (vgl. ebd., UN-Behindertenrechtskonvention Art. 1, Abs. 2).
- Der Begriff der „assoziierten Benachteiligung“ soll in den Gesetzestext einfließen. Nach europäischem Recht müssen diejenigen auch vor Diskriminierung geschützt werden, die zum Beispiel wegen der Hautfarbe ihres Lebenspartners diskriminiert werden (vgl. Berghan et al. 2016).
2. Positivität (§5 positive Maßnahmen)
Berghan et al. (2016) kritisieren auch, dass positiven Maßnahmen im AGG ein zu geringer Wert beigemessen wird. Durch diese wirke das Gesetz nicht nur bei Nicht-Einhaltung durch eine Klage. Indem präventive Maßnahmen, wie zum Beispiel Gleichstellungspläne in Unternehmen, in das Gesetz verankert würden, könnte stärker der normative Charakter des AGG zur Geltung kommen (vgl. Klose/Merx 2010).
3. Die Kirchenklausel (§9 Zulässige unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung)
Die sogenannte Kirchenklausel spricht den Religionsgemeinschaften und ihren zugeordneten Einrichtungen, wie Caritas und Diakonie, in Deutschland implizit, zum Beispiel durch das Kirchenrecht, Privilegien zur Ungleichbehandlung in Bezug auf die Religion oder Weltanschauung zu. Diskriminierung durch diese Klausel müsse vermindert werden, sagen die Autor*innen. So sollen Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen und Erzieher*innen weniger einfach bei Verletzung religiöser Verhaltenspflichten als verkündigungsnahe Berufe (wie Priester oder Seelsorger*innen) gekündigt werden können (vgl. Berghan et al. 2016).
4. Entschädigung der Betroffenen (§15 Entschädigung und Schadensersatz)
Eine Beschränkung des Entschädigungsanspruchs auf drei Monatsgehälter bei Nicht-Einstellung wegen Diskriminierung soll aufgehoben werden. Hier bezieht sich die Studie auf potenzielle ökonomische Anreize für Unternehmen, sich durch den Sanktionierungscharakter des Gesetzes präventiv gegen Diskriminierung einzusetzen (vgl. Berghan et al. 2016).
5. Durchsetzung des Rechtsanspruchs (§21 Ansprüche)
Die sogenannte Rechtsdurchsetzung des AGG ist von zentraler Bedeutung, da Diskriminierte durch Beschwerde und Klage selbst ihren Rechtsanspruch wahrnehmen müssen. Hier müssten Hindernisse abgebaut werden. Das Wissen um die eigenen Rechte müsse gestärkt und tatsächliche oder angenommene Hürden wie z.B. Kosten und sonstige Nachteile vermittelt werden. (vgl. Berghan et al. 2016). Außerdem soll eine Stärkung des Verbandsklagerecht sowie eine Fristverlängerung der Klagemöglichkeit von zwei auf sechs Monate ermöglicht werden, um das Gesetz anwendbarer zu gestalten (vgl. ebd.).
6. Stärkung der Antidiskriminierungsstelle (§27 Aufgaben der Antidiskriminierungsstelle)
Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle soll durch Ressourcen und Personal verstärkt werden. Ihre Kompetenz müsse vor allem bei der Unterstützung beim Klagerecht erweitert werden. (vgl. Berghan et al. 2016)
Weitere Schwierigkeiten: Praktische Umsetzung
Neben den genannten Kritikpunkten besteht ein weiteres Problem in der praktischen Umsetzung des Gesetzes. Wenn eine Person Diskriminierung erfährt, kann diese sich an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes wenden und sich dort rechtlich beraten lassen, sodann eine gütliche Beilegung anstreben oder unter Berufung auf das AGG klagen (§27). Allerdings kommt es nach einer Diskriminierung gemäß §1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes in Deutschland sehr selten zur Auseinandersetzung vor Gericht: im Rahmen einer bevölkerungsrepräsentativen Umfrage hat knapp ein Drittel der Menschen in Deutschland (31,4 Prozent) innerhalb von zwei Jahren eine Diskriminierung im Anwendungsbereich des AGG erlebt, wobei in der Befragung nur 6,2 Prozent der Betroffenen angab, Klage erhoben zu haben. (vgl. Beigang et al. 2017).
Was müsste konkret geändert werden?
In einem Policy Paper vom Oktober 2021 führen Autor*innen der Gesellschaft für Freiheitsrechte zum Reformbedarf zentrale Punkte auf, um die herrschende strukturelle Rechtsunsicherheit zu vermindern (vgl. Gesellschaft für Freiheitsrechte 2021):
- Eine angemessene Klagefrist von mehr als zwei Monaten und die Möglichkeit zur Verbandsklage einführen.
- Positive Maßnahmen zur Antidiskriminierung in das Gesetz aufnehmen.
- Einen offenen, der EU-Charta- entsprechenden Katalog von Diskriminierungsformen etablieren.
Anpassung des AGG an die Standards der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
Vor allem der letzte der oben beschriebenen drei Vorschläge scheint eine wichtige Änderung darzustellen. Das AGG entspricht mit seinen derzeitigen Diskriminierungskategorien nicht europäischen und menschenrechtlichen Standards (Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 21, Abs. 2). Da Rechtsansprüche Diskriminierter vor allem über Klagen in Anspruch genommen werden müssen, besteht ein erhöhter Bedarf, die Zugangsmöglichkeit zur Rechtshilfe in diesem Bereich auszubauen. Rechtsbeistand ist ein zeit- und kostenreiches Unterfangen, das diskriminierte Personen dann zusätzlich belasten könnte, was wiederum die Ziele des AGG konterkariert. Auch, dass die Diskriminierungskategorie des „sozialen Status” oder „der Region” (beispielsweise Benachteiligung durch ehemalige DDR/BRD-Zugehörigkeit) nicht durch die Kategorie der Ethnie im AGG erfasst wird, wird wissenschaftlich moniert (vgl. Liebscher/Klose 2014). Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Verhältnisse von Menschen, die nicht vom AGG bewusst (siehe Kirchenklausel) oder unbewusst erfasst werden. Darunter fallen auch arbeits- und zivilrechtlich nicht-eingeschlossene Diskriminierungen sowie der „implicit bias“, der in dieser Ausgabe in der Rubrik Diversität verstehen genauer beschrieben wird. In diesen Grauzonen treten jedoch häufig Diskriminierungen auf (vgl. Ratliff/Smith 2021).
Résumé
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 ist der Umsetzungsversuch europäischer Richtlinien zur Antidiskriminierung. Wissenschaftlich wird das AGG wegen legaler Ungenauigkeiten, die unter anderem nicht den europäischen Rechtsstandards entsprechen, sowie der ungenügenden praktischen Wirksamkeit kritisiert. Dies ist seit der Evaluation 2016 durch Berghan et al. (2016) auch in der deutschen, wissenschaftlichen Öffentlichkeit angelangt. So wurden aber beispielweise keine der hier vorgestellten Empfehlungen der Wissenschaftler*innen durch die politischen Verantwortlichen umgesetzt. Eine Überarbeitung scheint nötig, sodass mithilfe des Gesetzes Diskriminierung in Deutschland effektiver vermindert und Diversität gefördert werden kann.
Literatur
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Beigang, S.; Fetz, K.; Kalkum, D.; Otto, M. (2017): Diskriminierungserfahrungen in Deutschland. Ergebnisse einer Repräsentativ- und einer Betroffenenbefragung. Baden-Baden: Nomos. 1. Auflage 2017.
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Gesellschaft für Freiheitsrechte (2021): GFF-Policy-Paper. Reformbedarf im Diskriminierungsschutz. In: Publikationen der GFF, Oktober 2021. Online verfügbar unter: https://legacy.freiheitsrechte.org/home/wp-content/uploads/2022/03/Policy_Paper_ Reformbedarf_Antidiskriminierungsrecht.pdf [Zugriff: 31.12.2022].
Klose, A.; Merx, A. (2010): Positive Maßnahmen zur Verhinderung oder zum Ausgleich bestehender Nachteile im Sinne des § 5 AGG, Expertise i. A. der ADS. Berlin: ADS. 1. Auflage 2010.
Liebscher, D.; Klose, A. (2014): Vorschläge zur Novellierung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, erstellt im Auftrag des BUG. Berlin: BUG. 1. Auflage 2014.
Ratliff, K.; Smith, C. (2021): Lessons from two decades of Project Implicit. In: Krosnick, J., Stark, T., Scott, A. (Hg.): The Cambridge handbook of implicit bias and racism. Cambridge: Cambridge University Press. S. 15–17.
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