Chaos im Kopf?

Sam sitzt im Biologieunterricht – seinem Lieblingsfach – und trägt eine Lederjacke. Es ist das erste Mal, dass er von seiner Kleidungsroutine, immer das gleiche Shirt mit der gleichen Baumwolljacke, abweicht. Die neue Jacke fühlt sich am ganzen Körper ungewohnt an, die metallenen Schnallen klimpern bei jeder Bewegung leicht gegen den Stuhl, chaotische Reize fluten Sams Gehirn, dem Unterricht kann er nicht mehr folgen. Plötzlich springt Sam auf, reißt sich die Jacke vom Leib und stopft sie in den Mülleimer.


Diese Szene aus der Serie „Atypical“ ist nur eines von vielen Beispielen für die Darstellung von autistischem Verhalten in Filmen, das eine besondere Wahrnehmung von Ordnung und Chaos vermuten lässt. Da viele Menschen keinen persönlichen Kontakt zu Autist*innen haben, haben solche medialen Darstellungen einen großen Einfluss auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von Autismus. Doch dieses durch Filme vermittelte Bild ist oft nicht sonderlich realistisch: In vielen Filmen werden Autist*innen und ihre Gedankenwelt sehr stereotypisiert dargestellt. (vgl. Nordahl-Hansen et al. 2018, Conn/Bhugra 2012) Um mediale Darstellungen, wie die eingangs aufgeführte, besser einordnen zu können, lohnt es sich, sich näher mit dem Thema auseinanderzusetzen. Doch was genau ist Autismus überhaupt?


Es handelt sich bei Autismus um eine neuronale Entwicklungsstörung, die meist im Kindes- oder Jugendalter diagnostiziert wird. Während in der Anfangsphase der Autismusforschung noch von strikt getrennten Subtypen (z.B. dem Asperger-Syndrom) ausgegangen wurde, hat sich inzwischen die These von einem kontinuierlichen und breiten Spektrum von Symptomen durchgesetzt, sodass von einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) gesprochen wird. Hierbei verschwimmt der Übergang zu neurotypischen Menschen, eine klare Trennung zwischen Autismus und „Normalität“ ist nicht definierbar. Die von Person zu Person stark variierenden Symptome von Autismus sind sprachliche Entwicklungsstörungen im Kindesalter, Neigung zu repetitiven Verhalten und ungewöhnlichen Spezialinteressen sowie Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion. Schwierig ist für viele Autist*innen die Interaktion mit Menschen ohne Autismus, da sie häufig Probleme bei der Interpretation von nonverbalem Verhalten, Redewendungen und unausgesprochenen gesellschaftlichen Regeln haben. (vgl. van Elst et al. 2021) Weitere, die Sensorik betreffende, Symptome können eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber äußeren Sinneseindrücken, ein Verlangen nach geregelten Abläufen, dem die eigenen Fähigkeiten zur Selbstorganisation nicht immer gerecht werden, und ein Hang zur Muster- und Detailwahrnehmung sein (vgl. Clausen/Riedel 2020). Menschen mit Autismus fällt das Filtern von äußeren Reizen schwieriger als neurotypischen Menschen, mitunter fließen „Informationen aus verschiedenen Sinneskanälen […] ineinander und vermengen sich zu einem verwirrenden sensorischen Chaos“ (Preißmann 2015: 107).


Diese Form der Reizüberflutung löst Stress aus. Stress, der wie im eingangs aufgeführten medialen Beispiel auch im echten Leben zu spontanen, emotionsgesteuerten Bewältigungsmustern führen kann. Die Reduktion von Stressauslösern, der Umgang mit Stress und das individuelle Finden von Bewältigungsmechanismen ist daher für viele Autist*innen eine wichtige Maßnahme. (vgl. Theunissen 2017)


Eine chaotisch empfundene Welt löst sehr viel Stress aus, der wiederum zu einer natürlichen Labilität im Verhalten führt. Zur Kompensation suchen und brauchen Autisten daher dringend Stabilität. Auf diese Weise verspüren Autisten ein besonderes Bedürfnis nach Beständigkeit, Routine und Ordnung. Es ist deutlich stärker ausgeprägt als bei anderen Menschen.

 

Über die Wahrnehmung von Chaos und den eigenen Umgang damit hat die philou. mit einem Aachener mit Autismus gesprochen, der lieber anonym bleiben möchte. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass eine einzelne Perspektive keine Repräsentation für alle – nicht einmal zwingend für viele – Menschen mit Autismus sein kann.

 

philou. Wie empfindest du als Mensch mit Autismus Chaos in deiner Umgebung?

Interviewpartner. Mit Chaos umzugehen, finde ich schwierig, denn ich bin wie viele Menschen mit Autismus sehr strukturiert. Ich habe eine Struktur und wenn ich die nicht einhalte, komme ich ganz durcheinander. Anordnung, Aufbau, innere Gliederung – solche Strukturen spielen für Autisten eine große Rolle.

p. Und wie wirken sich chaotische Umstände auf deine Struktur und dein Wohlempfinden aus?

I. So chaotische, unvorbereitete Sachen gehen bei mir gar nicht, da komme ich mit meiner Struktur ganz durcheinander. Und das wirkt sich negativ auf mein Wohlempfinden aus.

p. Was ist ein Beispiel für eine solche Struktur, die in deinem Leben integriert ist?

I. Beispielsweise stehe ich jeden Samstag früh auf, um einkaufen zu gehen. Nachmittags geht Einkaufen bei mir gar nicht, ich stehe nämlich nicht so auf Rangeln und Schubsen.

p. In den letzten Jahren gab es wiederholt Zeitungsberichte über Supermärkte, die eine sogenannte „Stille Stunde“ eingeführt haben: Über die Lautsprecher wird nichts abgespielt, die Lichter sind gedimmt und es können Pläne über die Temperaturzonen im Supermarkt ausgehändigt werden. So soll unter anderem Menschen mit Autismus das Einkaufen erleichtert werden. Wie bewertest du solche Maßnahmen zur Inklusion?

I. Ich finde das klingt gut, auch wenn ich persönlich kein Problem damit habe, einfach früh einkaufen zu gehen. Insgesamt finde ich es aber wichtig, dass die Gesellschaft und auch Unternehmen auf Menschen mit Beeinträchtigung Rücksicht nehmen und ihnen Teilhabe ermöglichen.

p. Bezieht sich deine Ablehnung von Chaos lediglich auf Abläufe wie zum Beispiel Verabredungen, oder stört dich auch optisches Chaos, zum Beispiel wenn ein Zimmer unordentlich ist?

I. Da reagiere ich allergisch, ein Zimmer muss schon ordnungsgemäß aufgeräumt sein. Oder der Leergutraum im Supermarkt, da stehe ich gar nicht drauf, wenn der wie ein Schlachtfeld aussieht.

p. Das ist ein gutes Stichwort: Du arbeitest ja in einem Aachener Supermarkt. Wie stark beeinflusst dein Autismus deinen Arbeitsalltag?

I. Mal mehr, mal weniger. Mein Anspruch an Ordnung und Genauigkeit beansprucht natürlich Zeit, also brauche ich länger für Aufgaben. Aber hoddelig arbeiten kann ich einfach nicht.

p. Menschen mit Autismus haben es ja schwer auf dem Arbeitsmarkt, sie gelten als weniger leistungsfähig und ihnen wird häufig kein Mindestlohn gezahlt. Würdest du sagen, dass du durch deine ordentliche Arbeitsweise auch Vorteile gegenüber deinen nicht-autistischen Mitarbeiter*innen hast?

I. In mancher Hinsicht könnten sich einige Kolleg*innen tatsächlich eine Scheibe von meiner Arbeitsweise abschneiden – wenn ich gut arbeite. Aber es ist auch schwierig manchmal. Dass ich so deutlich unter dem Mindestlohn bezahlt werde, finde ich dreist, da könnte ich zuhause manchmal anfangen zu weinen. Ich muss auf viele Sachen verzichten und das schmerzt.

p. Wie reagieren andere Menschen darauf, dass du ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Strukturen hast?

I. Manche Menschen können gut damit umgehen, andere nicht. Wenn ich mich mit Menschen verabreden möchte, erhalte ich mehr Ablehnungen als Zusagen. Woran genau das liegt, kann ich natürlich nicht sagen.

p. Abschließend: Wenn du auf deinen Drang nach Struktur blickst, empfindest du ihn als etwas Positives, Negatives oder Neutrales?

I. Als etwas Neutrales. Ich bin es halt gewohnt und es ist ein Teil von mir.

p. Vielen Dank für das Gespräch.

Literatur

Clausen, J.; Riedel, A. (2020): Autismus-Spektrum-Störungen bei Erwachsenen. Köln: Psychiatrie Verlag.

Conn, R.; Bhugra, D. (2012): The portrayal of autism in Hollywood films. In: International Journal of Culture and Mental Health, 5(1). S. 54–62.
Nordahl-Hansen, A.; Tøndevold, M.; Fletcher-Watson, S. (2018): Mental health on screen: A DSM-5 dissection of portrayals of autism spectrum disorders in film and TV. In: Psychiatry Research, 262. S. 351–353.

Preißmann, C. (2015): Glück und Lebenszufriedenheit für Menschen mit Autismus. Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag. 2. Auflage 2021.

Robia, R.; Tanen, B.; Saldua, D.; Tramer, A.; Oppenhuizen, M. (Autorenschaft); Regan, J. (Autorenschaft); Jann, P. (Regie) (2017): Julia Says. In: Gordon, S.; Leigh, J.; Oakes, A.; Pereira, K.; Port, M.; Rashid, R.; Rohlich, M.; Tanen, B.; Tarses, M.; Toll, J. (Produzierende): Atypical. Exhibit A; Sony Pictures Television. Staffel 1, Episode 3.

Schmidt, P. (2016): Bedürfnis nach Beständigkeit, Routine und Ordnung. In: Theunissen, G. (Hg.): Autismus verstehen. Außen- und Innenansichten. Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag. S. 158–167.

Theunissen, G. (2017): Autismus und herausforderndes Verhalten. Freiburg: Lambertus Verlag. 4. Auflage 2021.

Van Elst, L.; Biscaldi-Schäfer, M.; Riedel, A. (2021): Asperger-Syndrom, Autismus-Spektrum-Störungen und Autismusbegriff: historische Entwicklung und moderne Nosologie. In: Van Elst, L. T. (Hg.): Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. S. 3–16.

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