Zwischen Wissen und Fühlen ‑ Wie ein Mahnmal die Erinnerung prägt

Berlin kommuniziert Geschichte wie kaum eine andere Stadt in Europa. Orte der Erinnerung, wie Museen und Denkmale, geben der Vergangenheit eine physische Existenz und bieten Raum zur Reflexion. Sie aktualisieren das Geschichtsbewusstsein, während Mahnmalen zusätzlich eine besondere Bedeutung in der Aufarbeitung der Geschichte zukommt.

Das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ ist heute einer der bekanntesten Orte Berlins und entfachte vor seiner Erbauung eine breit gefächerte Diskussion um seine Form und die Aussage, die kommuniziert werden sollte. Das alltägliche Bild am Holocaust-Mahnmal gestaltet sich vielfach anders, als man vermuten mag. Die Besucher nehmen den Ort auf verschiedene Art und Weise wahr und zeigen sich in unterschiedlichem Maße betroffen. Kinder spielen Fangen, rennen unbeirrt durch das Stelenfeld. Ein paar Meter weiter posieren Besuchergruppen für Fotos, während andere Menschen mit gesenktem Kopf durch die Gänge gehen.

Warum löst das Mahnmal bei jeder Person andere Gefühle und ein unterschiedliches Maß an Betroffenheit aus? Der Horizont von Gedanken, Gefühlen und Bildern, die mit dem Stelenfeld verbunden werden, mag abhängig sein von der Generationenzugehörigkeit und dem kulturellen wie familiären Hintergrund. Mit dieser Annahme stellt sich jedoch die Frage, wie sich die Erinnerungskultur verändern wird, wenn die Erinnerungen an den Holocaust und die Zeit des Nationalsozialismus in die Ferne rücken. Auf welchen Wegen lässt sich dieErinnerungskultur weiterführen, wenn die Zeitzeugen verstorben sind?

„Wer künftig aufwächst [...] wird in der politischen Bildung niemandem begegnen, dem die Leiden, die Schuld, aber auch die Kraft zur Versöhnung in die Augen geschrieben, in die Stimme gedrungen oder eben in die Haut tätowiert sind.“

Den Mahnmalen des Nationalsozialismus kommt in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung zu. Sie sind Orte, an denen die Erinnerung aktualisiert und sinnlich erfahrbar wird (vgl. Kermani 2017). Mit Bau des Holocaust-Mahnmals in Berlin ist die Form und Abstraktion eines Denkmals in die breite Diskussion geraten und vielfach thematisiert worden. Wie gestaltet man ein Denkmal, das sowohl die persönliche als auch die öffentliche, geschichtliche Erinnerung wachhält und das, auch wenn die „biographischen Referenzpunkte fehlen“ (Kermani 2017)?

Museen und Denkmale erhielten in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts einen enormen Aufschwung. Der Grund dafür liegt vielleicht in der „Materialität des Objektes“ (Huyssen 1994: 12). Im medialen Zeitalter, das beherrscht wird „vom flüchtigen Bild“ (Huyssen 1994: 12) und Push-Nachrichten, zeichnet sich ein Wunsch nach Plastizität und sinnlicher Erfahrung ab, die ein elektronisch erzeugtes Bild oder eine Tonspur nicht bieten können (vgl. Huyssen 1994: 12). Zudem steht ein Denkmal für eine bestimmte Symbolik. Mit einem Symbol verbindet eine Mehrheit von Personen Gefühle und Gedanken, die in ihrem Gehalt eine gleiche Schnittmenge aufweisen. Dies ist gebunden an die gesellschaftliche Umgebung und das Wissen um die Bedeutung des Symbols (vgl. Siggelkow 2001: 111f.). Doch diese kollektive Erinnerung ist weder konstant noch lässt sie sich für eine breite Masse der Gesellschaft pauschalisieren. Sie ist zwangsweise einer Selektion innerhalb der Gesellschaft und manchmal auch dem Verfall unterworfen (vgl. Huyssen 1994: 9). Doch wie wird unsere Zukunft mit der Erinnerung aussehen?

Die Debatte um das Holocaust-Mahnmal in Berlin in den 1990er Jahren war vielschichtig und drehte sich oft um die Frage, wie ein Mahnmal die Zukunft und den Alltag der Stadt prägen wird (vgl. Kirchberg 2001: 52). Lässt sich das Grauen des Holocausts mit einem Monument oder einer Kunstinstallation überhaupt erfahrbar machen? (vgl. Schweppenhäuser 1999: 20f.) Wie kommuniziert man etwas, das einem „den Atem raubt und sprachlos macht“ (Arendt 1965: 19)? Welche Inhalte soll die Erinnerung an diesem Ort haben und ist diese zukunftsfähig?

Die unterschiedlichen Wahrnehmungen des Holocaustmahnmals haben grundlegend etwas mit der Form und der Wirkung eines Denkmals zu tun. Um einem Denkmal eine kollektive Bedeutung zukommen zu lassen, muss es verstanden werden. Der Betrachter muss nicht nur aus dem Kontext des Ortes, an dem er sich befindet, sondern auch aus dem Denkmal selbst entschlüsseln können, welche Aussage es macht. Ihm kommt also auch eine Kommunikations- und Dekodierungsfunktion zu. Ein Denkmal stellt sich folglich der Aufgabe, eine Erinnerung, über eine Zeit- und Raumdistanz hinausgehend, aufrecht zu erhalten (vgl. Kirchberg 2001: 63f). Dafür sind zwei Formen der Aktualisierung der Erinnerung von Bedeutung: Einmal ist es die persönliche Identifizierung durch eine abstrakte, oft emotionale Erfahrung und zudem die Aktualisierung des Wissens mittels konkreter Information, bei der der persönlichen Interpretation jedoch wenig Raum bleibt (vgl. Kirchberg 2001: 63f).

Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas setzt nach dem Entwurf des amerikanischen Architekten Peter Eisenman auf die persönliche Wirkung. Das Mahnmal ist abstrakt und dadurch persönlich erlebbar. Beim Gang durch das Stelenfeld hat jede Person eine völlig individuelle Erfahrung. Das Mahnmal setzt nicht auf rationale Begründung und Erklärung, sondern sorgt für eine affektive Gefühlsregung. Es schafft eine unmittelbare Präsenz von Gefühlen und Gedanken und füllt den Raum zwischen Subjekt und Objekt (vgl. Gleiter 1999: 34). Das Erinnern bleibt aktuell.

Die Reflexion setzt jedoch ein geschichtliches Vorwissen, oder eine persönliche Erinnerung und damit die individuelle Wirksamkeit voraus. Hat der Betrachter keine Schnittmenge mit dem behandelten Thema, kennt er den historischen Hintergrund zu wenig, fühlt er sich möglicherweise weniger angesprochen, weniger bedrückt, als andere Personen (vgl. Kirchberg 2001: 55).

Unter den Stelen befindet sich ein Informationszentrum, das das Feld aus Betonstelen mit Informationen belegt, jedoch fehlt dem Mahnmal an sich jegliche Dekodierungshilfe. Es könnte nicht für sich alleine stehen, denn der Raum der Interpretation in einem so abstrakt gehaltenen Denkmal ist groß (vgl. Kirchberg 2001: 63). Daher bestünde ohne besagtes Informationszentrum die Gefahr, dass sich die beabsichtigte Bedeutung mit der Zeit verschiebt oder sich dem Betrachter nicht erschließt (vgl. Schweppenhäuser 1999: 22). Die kollektive, zivile Erinnerung würde zu einer privaten, nicht kommunizierbaren Erfahrung. Bei einem Denkmal sind folglich sowohl abstrakte Elemente von Bedeutung als auch die Dekodierung mittels Information (vgl. Kirchberg 2001: 64).

Bald werden wir uns zeitlich wie räumlich immer weiter von der Erfahrung der nationalsozialistischen Herrschaft und dem Holocaust entfernen. Damit wird sich die Debatte um die Formen der Erinnerungskultur aktualisieren. Die Aufgabe, die Erinnerung an das Grauen des Holocausts im Bewusstsein der Menschen aufrecht zu erhalten, verliert jedoch nicht an Bedeutung.

Die Debatte um das Holocaust-Mahnmal in Berlin zeigt, dass sich Zeit und Raum vielleicht am besten überbrücken lassen, indem die Erinnerung, im Sinne einer persönlichen, ästhetischen Erfahrung, verbunden wird mit der Aktualisierung geschichtlichen Wissens (vgl. Schweppenhäuser 1999: 20). Die rein historische Information entzieht der Erinnerung die persönliche Identifikation. Sie erzeugt zwar Betroffenheit, bindet den Betrachter jedoch nicht ein und schafft keine persönlichen Identifikationspunkte. Ein völlig abstraktes Denkmal bietet im Gegensatz dazu keinen Zugang zur kollektiven Erinnerung und dem geschichtlichen Hintergrund. Das Wissen um das Geschehene und die damit verknüpfte Einordnung eines Denkmals, ist für die zukünftige Erinnerungskultur jedoch genauso wichtig wie die persönliche Erinnerung. Die Unzulänglichkeit der fehlenden Dekodierung eines Denkmals lässt sich mit der Verschmelzung beider Sphären beheben (vgl. Schweppenhäuser 1999: 22 f.). So kann ein umfassenderes Bild geschaffen werden, da die persönliche Erfahrung eines Denkmals und das historische Bewusstsein vielleicht nur zusammen und nicht für sich alleine stehen können. Nur in gegenseitiger Ergänzung können sie die Erinnerung einer Gesellschaft wachhalten (vgl. Kirchberg 2001: 68).

Quellen

Arendt, H. (1965): Über das Böse: Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München/Berlin; Piper 2006.

Gleiter, J. H. (1999): Über die Notwendigkeit ästhetischen Gedenkens. In: Philosophische Diskurse 2: Wegschauen? Weiterdenken!: Gerhard Schweppenhäuser und Jörg H. Gleiter (Hrsg.): zur Berliner Mahnmal-Debatte. Weimar: Universitätsverlag Bauhausuniversität. S. 28-35.

Huyssen, A. (1994): Denkmal und Erinnerung im Zeitalter der Postmoderne. In: James E. Young (Hrsg.): Mahnmale des Holocaust, Motive, Rituale und Stätten des Gedenkens. München: Prestel. S. 9-17.

Kermani, N. (2017): Die Zukunft der Erinnerung, Auschwitz morgen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 07.07.2017. Online verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/auschwitz-morgen-navid-kermani-ueber-die-zukunft-der-erinnerung-15094667-p7.html?printPagedArticle=true#pageIndex_6   [Zugriff: 01.12.2017].

Kirchberg, V. (2001): Das Holocaust-Mahnmal in Berlin. Zwischen öffentlichem Auftrag und privater Erfüllung. In: Ingeborg Siggelkow (Hrsg.): Gedächtnisarchitektur, Formen privaten und öffentlichen Gedenkens. Frankfurt am Main: Peter Lang. S. 51-72.

Schweppenhäuser, G. (1999): Das Denkmal-Dilemma. In: Philosophische Diskurse 2: Wegschauen? Weiterdenken!: Gerhard Schweppenhäuser und Jörg H. Gleiter (Hrsg.): Zur Berliner Mahnmal-Debatte. Weimar: Universitätsverlag Bauhausuniversität. S. 20-27.

Siggelkow, I. (2001): Das Denkmal im öffentlichen Raum: Kunstwerk und politisches Symbol. In: Ingeborg Siggelkow (Hrsg.): Gedächtnisarchitektur, Formen privaten und öffentlichen Gedenkens. Frankfurt am Main: Peter Lang. S.111-124.

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