Mit weichem Knüppel in die Mitmachfalle – wie politische Mediation bürgerliche Selbstorganisation imitiert

„Hatten Investoren und Eigentümer in früheren Jahren sehr schnell nach der Polizei gerufen, um ihre Interessen gegen widerständige Bürger durchzusetzen, haben sie mittlerweile gelernt, die Protestbewegungen mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen.“ (Wagner 2013a: 54) So lautet die Analyse des Kultursoziologen Dr. Thomas Wagner, die er am 31.10.2018 im Kontext der Veranstaltungsreihe „Demokratie leben“ vom Resilienz Verein Aachen vorgetragen hat.

[su_pullquote align=“right“ class=“urban rot small-text“]Dr. Thomas Wagner begreift sich selber als politisch links und war Autor für die anarchopazifistische Zeitschrift „Graswurzelrevolution“. Des Weiteren schrieb er als freier Autor für die deutsche und internationale Presse: unter anderem junge Welt, Die Zeit, Süddeutsche Zeitung, Neue Züricher Zeitung, der Freitag etc. Nach eigenen Angaben hat er auch Anfänge der Studentenbewegung in seinem eigenen Seminar an der RWTH Aachen beobachten können
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Obwohl Wagner die Forderung nach Basisdemokratie frühzeitig als linke Forderung verstand, konstantiert er, dass vorgefertigte Partizipationsangebote und Konsultationsverfahren sukzessive zur Aushöhlung bürgerlicher Mitbestimmung führen. Unter den Stichworten „politische Mediation“, „strategische Dialoge“, „Akzeptanzbeschaffung“ und „kollaborative Demokratie“ versteht der Soziologe, den spezialisierten Einsatz von Dienstleistungsunternehmen um Bürger_innen in die Planungsprozesse von Großbauprojekten miteinzubeziehen und das Ergebnis in Richtung der Interessen von Wirtschaft und Politik zu beeinflussen. Bürger_innenbeteiligung würde damit Teil des Repertoires an Herrschaftsinstrumenten, die den Politiker_innen, neben dem Einsatz von Polizeikräften, zur Verfügung stehe. Im Vortrag schlussfolgert Wagner, dass politische Mediation damit auch als „weicher Knüppel“ der Staatsgewalt bezeichnet werden könne: Sein erstes zentrales Argument lautet daher, dass politische Mediation das Kriterium der Ergebnisoffenheit nicht erfülle. In erster Linie gehe es darum, Diskussionen zu „versachlichen“ und die Politisierung der Projekte im Vorfeld zu verhindern, indem die betroffenen Bürgerinnen und Bürger in vorstrukturierte Diskussionsangebote eingeladen werden. Im Sinne der Investoren sollen hier größere Proteste, also Verzögerungen und steigende Kosten, möglichst vermieden werden. Daher seien sie per se nicht ergebnisoffen und in die Landschaft der erwerbbaren Dienstleistungen einzuordnen. Sein zweites Argument bezieht sich auf die Verbindlichkeit der Ergebnisse des zu durchlaufenden Beteiligungsprozesses: Werden sie in den Entscheidungen von den gewählten Volksvertrer_innen berücksichtigt? Oder taktieren sie zusammen mit Unternehmer_innen, doch im geheimen Hinterzimmer? Rechtlich seien sie, nach Wagner, zumindest nicht bindend.

Belege dafür findet der Vortragende in der systematischen Auswertung von diversen Studien und Zeitungsartikeln. Zum Beispiel solle laut einer Studie des RWE-Konzerns Bürger_innenbeteiligung zum selbstverständlichen Teil von Großbauprojekten werden. Auch im Manager-Magazin werde in diesem Kontext empfohlen, den Dialog mit den Bürger_innen zu forcieren. Aus der Perspektive des Kultursoziologen werden hier ursprünglich linke Ansätze, Verfahren und Ideen von großen Unternehmen genutzt und sind folglich als Mittel zur Erreichung des zugrundeliegenden Zwecks, also der kostengünstigen Realisierung der Investitionsmittel, zu verstehen.

Als Gegenbeispiel für eine funktionierende politische Mediation gelte das umstrittene Verkehrs- und Städtebauprojekt Stuttgart 21. Im Verlauf des Projektes formierten sich Proteste, an denen sich zehntausende Menschen beteiligten. Im Zuge dessen kam es auch zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei sowie einer kontroversen, öffentlichen Debatte. Schon lange bevor der Moderator Heiner Geißler im Stuttgarter Rathaus mit dem Schlichtungsverfahren beginnen konnte, sei, nach Wagner, „das Kind schon in den Brunnen gefallen.“ In diesem Sinne hätte eine politische Mediation, die gelingen soll, schon im Vorfeld ansetzen müssen, um jene Menschen in die Verfahren miteinzubeziehen, die sich im Zuge der Proteste politisch selbst organisiert haben.

Wenn Wagner versucht, die Ungerechtigkeiten in Mitbestimmungs- und Partizipationsverfahren als Mitmachfalle zu demaskieren, analysiert er sehr präzise die einzelnen Missstände, die aus der Weiterentwicklung von Herrschaftstechniken des politischen Establishments resultieren. So genau er auch den Fokus darauflegen kann, was moralisch nicht wünschenswert ist, so schwer fällt es ihm, Alternativen aufzuzeigen: Wie soll die Partizipation in einer gut funktionierenden Demokratie aussehen? Wenn sie sich nicht – wie Ingolfur Blühdorn passend beschrieben hat – zur simulativen Demokratie entwickeln soll, müssen wir darüber sprechen, wie im Detail vernünftige politische Aushandlungsprozesse strukturiert werden können. Zum Beispiel beim Bau eines Flughafens, der Planung einer Stromtrasse oder der Errichtung eines Windparks.

[su_box title=“NIMBY-Problematik“ title_color=“#FF8378″ class=“fancy article-infobox-40-right small-text“]Häufiges, aber nicht alleiniges Argumentationsmuster in lokalen Entscheidungsprozessen: NIMBY. Das englischsprachige Akronym steht für Not In My Backyard („Nicht in meinem Hinterhof“). Es bezeichnet eine ethische und politische Position von Menschen, die sich gegen Entwicklungen richten, die ihre Nachbarschaft und damit ihre eigene Lebensqualität beeinträchtigen könnten. Meist wird eine generelle Zustimmung für politische Vorhaben unterstellt, solange diese nur weit genug weg von der eigenen Haustür realisiert werden. Der NIMBY-Ansatz wird besonders in Diskussionen um die Ansiedlung von marginalisierten und diskriminierten Gruppen (Obdachlose, Flüchtlinge usw.), aber auch um den Aufbau von Industrie-Standorten, Mülldeponien, Lagerung radioaktiven Abfalls, Mobilfunkmasten oder Stromtrassen etc. verfochten. Dabei kommen teilweise auch soziale oder ökologische Argumente zum Einsatz, die aber fadenscheinig sind, solange es nur um die Verlagerung eines Problems geht.[/su_box]

Wie finde ich die Balance zwischen einer der Allgemeinheit dienenden, rationalen Entscheidung und der angemessenen Berücksichtigung einzelner Menschen? Und vielleicht als letzte Frage: Wer wird überhaupt berücksichtigt? Wer ist betroffen von einer Entscheidung, wer nicht? Fest steht, dass diese Fragen kaum allgemeingültig beantwortet werden können. Sie müssen detailliert aus den unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden und die verschiedenen Interessensgruppen müssen miteinander sprechen lernen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch eine in Auftrag gegebene Studie des Umweltbundesamtes mit dem Aufgabenschwerpunkt Konfliktdialog. Es gehe um das Verständnis des Konfliktes, so die Studie: die genaue Analyse der jeweilig unterschiedlichen Hintergründe. Sonst sei es kaum möglich ein passendes Format zur Konfliktminderung zu finden.

Ein Bericht des Lehrstuhls für Methoden der empirischen Sozialforschung an der Universität Potsdam liefert sogar theoretische Ansätze zur Bewertung von abgeschlossenen Beteiligungsverfahren: den sogenannten Beteiligungs-Bias. Er widmet sich der Frage, inwieweit die Meinungen der Beteiligten an einem Bürger_innenbeteiligungsverfahren von den übrigen Meinungen der nicht teilnehmenden Bürger_innen auseinandergeht. Dieses Instrument entstammt dem aus der Survey-Forschung bekannten Konzept der Verzerrung (Bias). Darüber hinaus sei er auch als Auswahlkriterium für zu planende Verfahren anwendbar. Auch wenn es sich bei letzterem Beispiel nur um theoretische Ansätze handelt, zeigen sie doch die Aktualität und Relevanz des Themas für die Gesellschaft eindrucksvoll auf. Welche Verfahren werden zukünftig angewandt, damit wir in unserer Demokratie auch wirklich demokratisch entscheiden?

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Weiterführende Literatur

Blühdorn, I.: (2013): Simulative Demokratie. Neue Politik nach der Postdemokratischen Wende. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (2014): Bürgerbeteiligung bei umweltrelevanten Großprojekten. Der Beteiligungs-Bias als methodisches Instrument zur Bewertung von Beteiligungsverfahren, 20.11.2014. Online verfügbar unter: https://www.bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Pools/Forschungsdatenbank/fkz_um_13_12_934_umweltrelevante_grossvorhaben_bf.pdf [Zugriff: 05.01.2019].

Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (2014): Neuartiger Öffentlichkeitsdialog in Verfahren mit Umweltprüfung am Beispiel bestimmter Vorhabentypen/Vorhabeneigenschaften. Leitfäden für Behörden und rechtliche Verankerung, 18.03.2015. Online verfügbar unter: https://www.bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Pools/Forschungsdatenbank/fkz_3712_13_101_umweltpruefung_schlussbericht_bf.pdf [Zugriff: 05.01.2019].

o.V. (2013): Ein Gespräch mit Ingolfur Blühdorn. Das etablierte Lamento trägt nicht zur Veränderung bei. In: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft. 2013/3. S. 131.

RWE Aktiengesellschaft (2012): Akzeptanz für Großprojekte. Eine Standortbestimmung über Chancen und Grenzen der Bürgerbeteiligung in Deutschland. Essen.

Wagner, T. (2013a): Die Mitmachfalle. Bürgerbeteiligung als Herrschaftsinstrument. Köln: PapyRossa Verlag.

Wagner, T. (2013b): Bürgerprotest in der Mitmachfalle. Wie aus Partizipation eine Herrschaftsmethode gemacht wird. In: PROKLA, Zeitschrift für Kritische Sozialwissenschaft. 43. Jg. 2013/2. S.297–304.

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