Glaube, Hoffnung, Liebe

Was machen Sie? Nichts. Ich lasse das Leben auf mich regnen.
Rahel Varnhagen (1771–1833)

Wir Modernen haben den Sinn für den Sinn verloren. Die großen Erzählungen sowie Gott haben ihre Kraft, uns zu leiten, uns zu halten, verloren. Spätestens seit der Katastrophe des 20. Jahrhunderts, der industriellen Vernichtung von Menschen in der Schoah, muss man davon ausgehen, dass jegliche Moral, jegliche Ethik und jede ernstzunehmende Theologie sich gehörig fragen muss, was eigentlich noch ihr Gegenstand ist. Wozu irgendetwas tun, wenn die Geschichte uns mit unschlagbarer Beweiskraft zeigt, dass das Menschliche durch menschliches Handeln mit einem Mal aus der Welt geschaffen werden kann? Die klassische Antwort der Theodizee, dass alles seinen Zweck hat, dass Gottes Wege unergründlich sind und letztlich alles dem Guten, der Heilsgeschichte diene, ist schlichtweg zynisch geworden. Was also können wir uns in einer scheinbar von Gott verlassenen Welt noch erhoffen? Wofür sollten wir uns in einer Welt, die sich immerzu unserer Verfügung entzieht, verantwortlich zeigen? Sollten wir nicht hoffen dürfen können, damit uns der Funke der Hoffnung zur Verantwortung bewegen kann? Nur bleibt die Frage: was hoffen? Einen Hinweis auf die Antwort zu diesen Fragen finden wir, wenn wir uns der Geschichte von Hiob zuwenden. Hiob ist uns ein unzeitgemäßer Zeitgenosse, der geradezu modern anmutet, weil er den Abgrund des Nihilismus, die „vollendete Sinnlosigkeit“ (Hannah Arendt), erfährt.

Hiob, ein rechtschaffener und frommer Mann in einem fremden Lande namens Uz, erfährt eine kaum vorstellbare Prüfung Gottes. Zerstört wird ihm all sein Besitz, seine Kinder holt der Tod und zuletzt überkommt unsägliche Krankheit seinen Körper. Hiob wirft sich zu Boden und antwortet: „Nackt kam ich hervor aus dem Schoß meiner Mutter; nackt kehre ich dahin zurück. / Der HERR hat gegeben, der HERR hat genommen; / gelobt sei der Name des HERRN.“ (Hi 1, 21) Einzig seine Frau bleibt ihm und spricht: „Hältst du immer noch fest an deiner Frömmigkeit? Segne Gott und stirb!“ (Hi 2, 9) Wie recht sie doch hat. Das Leben des Hiob ist offensichtlich aussichtslos. Gott scheint ihn verlassen zu haben und er will ihn noch segnen. Hiob reagiert wütend: „Wie eine Törin redet, so redest du. Nehmen wir das Gute an von Gott, sollen wir dann auch nicht das Böse annehmen?“ (Hi 2, 10) Befremdlich klingt die Antwort eines Frommen, der im Moment zuvor Gott gesegnet hat. Sollen wir denn das Böse in Gott annehmen?

Im theologischen Diskurs wurde diese Frage unter anderem mit dem Tun-Ergehen-Zusammenhang (Klaus Koch) verhandelt. Klaus Koch kommt aufgrund philologischer Untersuchungen zu alttestamentarischen Schriften zu dem Schluss, dass Gott weniger als richtende Instanz verstanden werden sollte, sondern die Handlungen der Menschen bloß vollendet und sich die Menschen dann gewissermaßen in ihrer Tat befinden (vgl. Koch 1991: 81). Damit zieht Schlechtes, Schlechtes mit sich und Gutes wiederum Gutes. Jede Tat wird so zum Schicksal und das, was auf die Tat folgt, ist kein Ergehen, keine Strafe, keine Belohnung. Dieses Schicksal und seine Ursachen zu erkennen, ist uns nicht immer möglich, da Gottes Weisheit die unsere weit übersteigt (vgl. Koch 1991: 98). Damit endet aber die Geschichte Hiobs nicht und es ist geradezu vermessen, sie zu lesen als sei er verantwortlich für sein Leid. Was kann Verantwortung für Hiob also noch heißen?

Nach sieben Tagen des Leids zieht er Gott vor den Gerichtshof, wohlwissend, dass es keinen Schiedsrichter, keinen Dritten, zwischen ihnen geben kann (vgl. Hi 9, 32–33). Er erkennt die Sinnlosigkeit seines Leids, bleibt sich seiner Unschuld sicher und verlangt eine Anklageschrift. Welche Hoffnung soll man mit Gott noch haben, wenn er uns doch offensichtlich aufgegeben hat? „Wozu Licht für den Mann auf verborgenem Weg, / den Gott von allen Seiten einschließt?“ (Hi 3, 23) Wesentlich nun in unserem Zusammenhang ist, dass sich Hiob nicht von Gott abwendet, obwohl Gott ihn scheinbar fallen lassen hat. Hiobs Klage ist kein Bruch. Ganz anders seine Freunde, die ihm tröstend zur Seite stehen wollen, aber ihm seine eigene Sündhaftigkeit und Unwissenheit vor Gott vorwerfen: „Wer Unrecht pflügt, / wer Unheil sät, der erntet es auch… Ist wohl ein Mensch vor Gott gerecht, / ein Mann vor seinem Schöpfer rein?“ (Hi 4, 7; 17) Wenn er nur einsähe, dass er unrechtmäßig gehandelt hat, dann sähe er auch den Sinn seiner Prüfung: seine Schuld am eigenen Leid. Es war Kant, der darauf hinwies, dass der Verdienst Hiobs darin liegt, dass er wahrhaftig spricht:

„Also nur die Aufrichtigkeit des Herzens, nicht der Vorzug der Einsicht, die Redlichkeit, seine Zweifel unverhohlen zu gestehen, und der Abscheu, Überzeugungen zu heucheln, wo man sie doch nicht fühlt, vornehmlich vor Gott.“ (Kant 1966: 119)

Hiob ist unschuldig. Seine Freunde, die ja durchaus gute Absichten hegen, sind im Grunde Ideologen, die aus der Allmacht und Allwissenheit Gottes Hiobs Unzulänglichkeit ableiten. Nicht zu klagen und alles so hinzunehmen wie es einem geschieht, das ist die eigentliche Sünde, weil man so Gott aus der Welt befördert. In der Fremde haben die Freunde den Gott Israels vergessen, nämlich Jahwe, den Befreier und Bundesgenossen Israels, zugunsten eines Gottes, der herrschend und allmächtig über den Menschen waltet. Im Prolog der Geschichte wird aber deutlich, dass sie gar nicht von der Allmacht Gottes handelt. Ganz im Gegenteil wird Gott von Satan, einem der „Gottessöhne“ (Hi 1, 6) herausgefordert, Hiob zu prüfen, ob er wirklich fromm sei oder nicht doch nur Götzen folge, die ihm geben, was ihm guttue. Die Klage Hiobs ist eben die Bekräftigung des Bundes, der in dem Glauben an die Güte Gottes gründet. Diese Welt kann nicht Gottes Wille sein. In Hiobs Klage offenbart sich so die Abhängigkeit Gottes von seinem Gegenüber als Bundesgenossen. Dass Gott anwesend sein kann, wird abhängig von der Kraft derjenigen, die an ihn glauben. Gott wird durch sie in die Anwesenheit gerufen. Hiobs Klage findet einen bemerkenswerten Nachklang bei Jesus, dessen letzte Worte am Kreuz waren: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15, 34) Die Klage ist die Erinnerung an den ursprünglichen Bund mit Gott im Einklang mit dem eigenen Gewissen.

Nach Nietzsche ist gerade dieses Gewissen eine Fehlentwicklung des Menschen. Das Gewissen wendet sich gegen das Leben, indem es unseren „Instinkt der Freiheit“ (Nietzsche 1999: 132), unseren „Willen zur Macht“ unterdrückt. Bedingung für das Gewissen ist das Gedächtnis. Zivilisationsgeschichtlich ist das Gedächtnis maßgeblich in dem Sinne, dass es Versprechen möglich macht und dadurch Bedingung für Bündnisse und Verträge ist. Im Rahmen dieser erinnerten Bindungen können wir verantwortlich gemacht werden, nämlich als diejenigen, die ein Versprechen eingegangen sind. Nach Nietzsche ist gerade aber das Gedächtnis nihilistisch, weil es sich gegen das Leben wendet und im Grunde „Willen zum Nichts“ (ebd.) ist. Nietzsches freier Mensch ist ein von jeglicher Bindung befreiter Mensch, der Kraft seines Willens heute dies, morgen jenes tut und sich nicht von den Ketten seines Gewissens zurückhalten lässt. Wesentlich für ihn ist das Vergessen. Wesentlich aber für Verantwortung ist die Erinnerung an das Versprechen. Verantwortung ist immer eine Antwort auf eine Anklage.

Dabei geht es viel weniger um die eigentliche Tat, sondern um die Person, die klagt und damit das Versprechen aktualisiert. Sie betrifft die Beziehung, die ich zu meinen Mitmenschen habe. Wir werden verantwortlich nicht dafür, was wir tun, sondern dafür, den Faden der Beziehung zum Anderen nicht reißen zu lassen. Versprechen, Wahrhaftigkeit und Verantwortung gehören damit zusammen. Verantwortung ist nun wesentlich: dem Anderen Treue halten; Treue ist das Festhalten an der Wahrheit einer Beziehung. „[W]enn es Treue nicht gäbe, wäre die Wahrheit ohne Bestand, ganz und gar wesenlos.“ (Arendt 2002: 39) Und die Möglichkeit zur Beziehungsstiftung wäre suspendiert.

Somit wird Verantwortung Bedingung dafür, dass wir uns die Welt zur Heimat machen und in ihr „Wurzeln schlagen“ (Arendt 2016: 85) können. Das bedeutet auch, dass unsere Klage, unser Rechtsanspruch unerfüllt bleiben kann. Menschliche Beziehungen sind kein Geben und Nehmen, kein Geschäftsverhältnis, sondern freie Stiftungen. Menschlichkeit zeigt sich dann, wenn wir im Verhältnis zum Anderen auf unseren Rechtsanspruch verzichten. Gerade der, dem Leid zugefügt wurde, sieht sich dieser Entscheidung ausgesetzt. Adorno bemerkte einmal über den leidenden Liebenden: „Ihm geschah unrecht; daraus leitet er den Anspruch des Rechts ab und muß ihn zugleich verwerfen, denn was er wünscht, kann nur aus Freiheit kommen. In solcher Not wird der Verstoßene zum Menschen.“ (Adorno 1980: 185) Am Ende der Geschichte Hiobs tritt Gott auf. Er wird sich nicht rechtfertigen für das, was er zugelassen hat. Aber Hiob fordert auch nicht mehr sein Recht ein. Es reicht ihm die Gewissheit der Anwesenheit des Anderen. Was bleibt, ist nicht Wahrheit, nicht Wissen, sondern Sinn.


Quellen

Adorno, T. W. (1980): Gesammelte Schriften. Band 4. Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Arendt, H. (2002): Denktagebuch. 1950 bis 1973. Erster Band. München: Piper.

Arendt, H. (2007): Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München: Piper. 11. Auflage 2016.

Die Bibel. Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament. Stuttgart: Herder 2016.

Kant, I. (1966): Werke VI. Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Pädagogik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Koch, K. (1991): Spuren hebräischen Denkens. Beiträge zur alttestamentlichen Theologie. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag.

Nietzsche, F. (1999): Sämtliche Werke. Band 6. Stuttgart: Mundus Verlag.

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