Sehnsucht nach Wirklichkeit

 

Mit welchem Schlagwort werden zukünftige Generationen unsere Gegenwart verbinden? Ein möglicher Kandidat findet sich im Begriff der „Krise“: Weltwirtschaftskrise, Flüchtlingskrise, Ukraine-Krise, Eurokrise, Umweltkrise. Wirft man einen Blick auf die intellektuellen Debatten der letzten Jahre und Jahrzehnte trifft man auf eine weitere, in der Öffentlichkeit aber selten thematisierte Krise: die Krise des Wirklichkeitsbezugs (vgl. Baecker 2014: 24). Die Frage nach der Art und Weise, wie ein Wirklichkeitsbezug zustande kommt, beschäftigte Denkerinnen und Denker aller Jahrhunderte: Platon schuf einen Grundstein des systematischen Zweifelns, eine Ahnung davon, dass Wirklichkeit auch ganz anders sein könnte als wir denken, indem er seine Zuhörer mit dem Gesicht zur Höhlenwand anketten ließ. René Descartes Meditationen, Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft und in jüngerer Vergangenheit Edmund Husserls Bewusstseinsphilosophie folgen Platon, wie Alfred North Whitehead später sagen wird, als dessen Fußnoten (vgl. Whitehead 1929, 91) mit der Frage, wie verlässlich denn unsere Eindrücke und Wahrnehmungen von der Realität im Letzten sind. Spätestens seit Jean-François Lyotard Ende der Siebziger die Postmoderne ausgerufen hatte, begann sich dieser Zweifel an eine einzige, wahre, erfassbare Wirklichkeit in einer multiperspektivischen Verstrickung aufzulösen, die keine Auswege mehr zu kennen scheint (vgl. Ferraris 2014: 15). Die Schreie nach Kontingenzbewältigung, nach der altbekannten Sicherheit zuverlässiger Aussagen lässt nicht lange auf sich warten. Ihr antwortet 2011 eine junge philosophische Bewegung, die den direkten Zugang zur Wirklichkeit wiedergefunden haben will: Die Stunde des Neuen Realismus hat geschlagen.

Es geschah am 23. Juni 2011, gegen 13:30 Uhr, bei einem Mittagessen am Hauptplatz von Neapel. Markus Gabriel und Maurizio Ferraris leerten ihr Weinglas und erklärten die Postmoderne und ihr grenzenloses Zweifeln endgültig für beendet. Sie riefen die Wiederentdeckung der Wirklichkeit aus (vgl. Gabriel 2014: 76). Die gegenwärtig gebräuchlichen Methoden zu denken, die Art und Weise Diskurse zu führen, haben die Wirklichkeit verlernt, so ihr Vorwurf. Die unzähligen Stimmen in der Philosophiegeschichte, dass die Sicht des Subjekts auf die Wirklichkeit durch ihre Erscheinungen verstellt werde, führe letztlich in eine Sackgasse (vgl. Gabriel 2009: 34). Einzig die Sündenböcke wechseln im Lauf der Epochen in recht innovativer Manier: Mal war es die Vernunft, mal die Sinneswahrnehmung, mal das Bewusstsein, dann die Sprache und heute sehr prominent, das Gehirn und dessen biochemischen neuronalen Verschwörungskomplizen. Der Anklagegrund der Realitätsverweigerer bleibt dabei immer derselbe: Der Wirklichkeitsbezug sei immer vom Subjekt konstruiert. Diese notwendige Bindung ans Subjekt will die neue Position als Holzweg entlarven und das von Immanuel Kant verschüttete Ding an sich (vgl. Kant 1787: 341) unabhängig von seinen Beobachtern an die Oberfläche der Erkenntnisfähigkeit zurückholen. Dem allseits bekannten Motto einer Pippi Langstrumpf – ich mach‘ mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt … – treten die schon verloren geglaubten objektiven Attribute ‚wahr‘ und ‚falsch‘ entgegen. Wirklichkeit kann man sich laut Markus Gabriel nicht beliebig aussuchen. Es gibt objektive Tatsachen. Gabriel akzeptiert die Existenz verschiedener Perspektiven. Diese erlaubten jedoch keineswegs verschiedene Wirklichkeiten. Gleichzeitig verabschiedet er sich von einer monistischen Ontologie, einer gemeinsamen Art und Weise des Seins von allem, was da ist, und bezeichnet diese als Überkategorisierung der Wirklichkeit. Dem gegenüber präsentiert er eine – wie er selbst nennt – Dschungelonotolgie (vgl. Gabriel 2013: 48), die keine Vereinheitlichung zulässt. Damit ermöglicht er eine Wirklichkeit, die verschiedene Perspektiven, er nennt sie Sinnfelder, ein und derselben Sache besitzt, wobei jedes Sinnfeld für sich genommen die ganze Wirklichkeit abbildet. Diese beinhalten die Notwendigkeit der Wahrheit, die ihnen als unabhängige Eigenschaft zukommt oder fehlt. Kurzum: Sofern wir überhaupt etwas erkennen können, erkennen wir das Ding an sich, jedoch als Spielart einer unendlichen Anzahl von Sinnfeldern (vgl. Gabriel 2013: 136). Eine Welt als abgeschlossenes Ganzes existiert aufgrund der Unendlichkeit der Sinnfelder im Neuen Realismus nicht.

Die Neuen Realisten verbindet einiges mit der schon alteingesessenen Strömung der Phänomenologie: Vornehmlich die Kritik am Konstruktivismus und das Motiv, die Art und Weise eines möglichen Wirklichkeitsbezugs zu eruieren, um so das Eigentliche erkennen zu können (vgl. Sparrow 2014: 12). Sowohl Edmund Husserl als auch Martin Heidegger beanspruchten dabei eine Überwindung der Opposition zwischen einem naiven Realismus des Materialismus – es existiert nur das, was innerhalb von Raum und Zeit vorhanden ist (Marx) – und dem Idealismus – die Wirklichkeit existiert nur in Form von Ideen (Hegel). Für Gabriel ist dieser Mittelweg zu wenig weit gedacht: Schließlich bleibe das Seiende in der Phänomenologie von der Zuwendung durch den Menschen ontologisch abhängig. Wirklichkeit verlange jedoch einen Existenzbegriff, der ganz ohne den Menschen gedacht werden könnte. Husserl hat sich bekanntermaßen gegen dieses Positum einer absoluten Realität ohne Subjekt geäußert (vgl. Husserl 1913: 134). Hier knüpft Gabriel an den Speculative Realism an, das englischsprachige Pendent des deutschsprachigen Neuen Realismus, der schon 2007 in London seine Geburtsstunde fand, im deutschsprachigen Raum aber erst durch Gabriel Gehör fand. Quentin Meillassoux, Begründer des Speculative Realism, störte sich an Husserls wechselseitigem Abhängigsetzen von Sein und Bewusstsein in Kants Transzendentalphilosophie: Die Phänomenologie erahne zwar das Ding an sich, lässt es jedoch zugunsten des Subjekts als Maßstab allen Seins unausgegraben zurück. Meillassoux lehnt in der Folge eine Korrelation von Wirklichkeit und dem menschlichen Bewusstsein zur Gänze ab (vgl. Meillassoux 2013: 82f.). Kulturgeschichtliches Ziel des Speculative Realism ist die Abschaffung des Menschen als geistiger Angelpunkt des Universums:

“When ontology is investigated through the lens of some human instrument of knowing, it inevitably results in an anthropomorphic photograph of being. The problem with Kant and phenomenology is that they ultimately seek anthropological universals, which can only underwrite the possibility of human experience. They then illegitimately infer that experience qua experience is only possible for humans, or that it is senseless to talk about nonhuman experience.“ (Sparrow 2014: 164).

Somit kann einer Katze, einer Blume oder sogar einem Stein ebenso wie einem Menschen etwas widerfahren und ist in dieser Hinsicht unabhängig von Subjekten erfahrbar; der Mensch ist somit ein Ding im Universum wie jedes andere auch. Wollen wir die Wirklichkeit retten, müsse die Hoheit des Menschlichen endlich fallen, so Meillassoux (vgl. Meillassoux 2006: 45).

Der Neue Realismus tauscht Subjektivität gegen Sinnfelder, Subjekte gegen Objekte, Menschen gegen Steine. Kritische Stimmen attestieren der neuen Denkrichtung, eine Mogelpackung verkaufen zu wollen: Der Tausch wechsle die Etiketten, nicht aber den Inhalt. Kritiker konstatieren, die Medizin des Neuen Realismus funktioniert lediglich in Form einer Abgrenzung von bewusst überspitzten Radikalversionen der Postmoderne und des Konstruktivismus (vgl. Schülein 2016: 23). Dennoch muss der Rehabilitation menschlicher Erkenntnisfähigkeit, wie sie Ferrari, Gabriel und Meillassoux mit verschiedensten Neudefinitionen der Wirklichkeit versuchen, eine Stärke unbestreitbar zugesprochen werden:

Die Krise des Wirklichkeitsbezugs hat sich gewendet und ihre Sackgasse verlassen, denn der Neue Realismus täuscht keine Voraussetzungslosigkeit mehr vor, sondern steht dazu, dass innerhalb jeder philosophischen Position wenigstens ein Minimum an Fakten als wahr angenommen werden muss, das seinerseits nicht konstruiert sein kann.

 

Quellen

Baecker, D. (2014): Was ist Wirklichkeit? In: Dokument, Fälschung, Wirklichkeit. Materialband zum zeitgenössischen Dokumentarischen Theater. Berlin: Theater der Zeit. S. 22-28.

Ferraris, M. (2014): Manifest des neuen Realismus. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann.

Gabriel, M. (2009): Skeptizismus und Idealismus in der Antike. Berlin: Suhrkamp.

Gabriel, M. (2013): Warum es die Welt nicht gibt. Berlin: Ullstein.

Gabriel, Markus (2014): Der Neue Realismus. Berlin: Suhrkamp.

Husserl, E. (1913): Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Hamburg: Max Meiner 2009.

Kant, I. (1787): Kritik der reinen Vernunft. Stuttgart: Reclam. Erste Auflage 2010.

Meillassoux, Q. (2006): Après la finitude. Essai sur la nécessité de la contingence. Paris: Seuil.

Meillassoux, Q. (2013): Métaphysique et fiction des mondes hors-science. Paris: Aux forges de Vulcain.

Schülein, J.-G. (2016): Metaphysik und ihre Kritik bei Hegel und Derrida. Hamburg: Meiner.

Sparrow, T. (2014): The End of Phenomenology. Metaphysics and the New Realism. Edinburgh: Edinburgh University Press.

Whitehead, A. (1929): Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie. Berlin: Shurkamp. Erste Auflage 1979.

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